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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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mir gesucht.«
    »Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Wir hätten dich kaum zurücklassen können, solange wir das nicht wussten.«
    Meine kleine Laterne war nun die einzige, die in dieser dunklen unterirdischen Kammer brannte. Unter der gewölbten Decke, wo sich sorgfältig geformte Steine in einem Wunder des Gleichgewichts überlappten, lebten in Netzen zahllose kleine Geschöpfe. Der Boden war glatte, fest gestampfte Erde. An einem Ende der Kammer gab es eine riesige, dunkle Steinplatte, deren Oberfläche vom häufigen Gebrauch wie poliert aussah. Wozu sie gut war, konnte man nur raten. Darüber befand sich in einem Winkel eine einzige kleine Öffnung zwischen den Steinen, die direkt durch den Boden und die Pflanzendecke geschnitten war. An einem bestimmten Tag des Jahres würde die Sonne direkt durch diese Öffnung auf den Stein darunter fallen; an diesem Tag würden vielleicht die alten Mächte dieses Ortes erwachen. Sie waren noch nicht verschwunden. Ich konnte sie in der reglosen Luft spüren, die mich umgab, in den grob behauenen Wänden, wo hier und da ein kleines Zeichen eingemeißelt war. Ich musste plötzlich an den jungen Druiden denken, an Ciarán, der in seinem Schmerz und seiner Wut Sevenwaters so rasch verlassen hatte. Vielleicht war es besser, nicht zu viel zu empfinden. Nicht zu viel zu wünschen. Keine Vergangenheit, keine Zukunft. Nur heute. Sehr viel sicherer. Solange die Vergangenheit nicht ungebeten zurückkehrte.
    »Du bist müde«, sagte Hund. »Aber wir werden morgen weg sein. Ich wollte dich fragen … nein, vielleicht lieber nicht.«
    »Was? Du kannst gerne fragen.«
    »Du bist müde. Es war ein langer Ritt für dich. Wir würden gerne eine andere Geschichte hören, eine letzte Geschichte, bevor wir … es ist zu viel. Vergiss es.«
    »Schon gut.« Ich lächelte und unterdrückte ein Gähnen. »Ich kann morgen schlafen. Eine einzige Geschichte schaffe ich sicher noch.«
    Obwohl wir ganz leise gesprochen hatten, wussten es seltsamerweise alle. Ich war bald von Männern umgeben, die sich schweigend an die Mauer lehnten oder vor mir hockten. Einige saßen im Schneidersitz und schärften Messer oder Speerspitzen im Laternenlicht. Spinne streckte einen langen Arm aus und reichte mir einen Krug Bier. Hinter den anderen standen Bran und Möwe nebeneinander. Im Dunkeln war Möwe beinahe nicht zu sehen, es sei denn, sein Grinsen entblößte die blitzenden Zähne. Bran beobachtete mich mit verschränkten Armen und ausdrucksloser Miene. Kein Zeichen von Müdigkeit. Und er hatte länger nicht geschlafen als wir alle, wie ich sehr genau wusste.
    »Ich dachte zunächst«, meinte ich, »am Vorabend eures Auftrags sollte ich euch eine weitere Heldengeschichte erzählen, von Opfermut und Tapferkeit auf dem Schlachtfeld. Aber dazu habe ich nicht das Herz. Es ist gut möglich, dass die Männer, die ihr dort angreifen werdet, meine eigenen Verwandten sind. Außerdem habe ich gehört, dass ihr bei dem, was ihr tut, die Besten seid. Ich kann also davon ausgehen, dass ihr keine zusätzliche Ermutigung dazu braucht, euch hervorzutun. Also werde ich stattdessen versuchen, euch abzulenken, und ich erzähle euch eine Liebesgeschichte. Die Geschichte einer Frau, die entgegen aller Erwartungen treu zu ihrem Mann gehalten hat.«
    Ich trank einen Schluck Bier. Es schmeckte sehr gut, aber ich stellte den Becher wieder ab. Hätte ich noch mehr getrunken, dann wäre ich vermutlich direkt eingeschlafen. Ich sah mich in dem Kreis grimmiger Gesichter um. Wie viele von ihnen würde ich wieder sehen? Wie viele würden morgen um diese Zeit noch am Leben sein?
    »Sie war ein ganz gewöhnliches Mädchen, eine Bauerntochter, und sie hieß Janet. Aber ihr Liebster nannte sie Jenny – ein Name, den sonst niemand für sie benutzte. Wenn er sie so nannte, fühlte sie sich wie die schönste Frau der Welt. Und ihr Tom hielt sie ganz sicher dafür. Tom war ihr Liebster, und er war ein Schmied wie Evan hier, ein starker junger Mann, breitschultrig und ein fähiger Handwerker. Er war nicht zu groß und nicht zu klein. Er hatte lockiges braunes Haar und ein freundliches Gesicht. Aber was Jenny am liebsten an ihm mochte, waren seine dunkelgrauen Augen – vertrauenswürdige Augen, nannte sie sie. Sie wusste, was auch geschehen würde, Tom würde sie nie enttäuschen.
    Jenny war ein stilles Mädchen. Ein braves Mädchen. Sie gehorchte ihrem Vater, sie half ihrer Mutter, sie lernte all die Dinge, die eine gute Frau wissen muss. Sie konnte

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