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Der Sohn der Schatten

Der Sohn der Schatten

Titel: Der Sohn der Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Juliet Marillier
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erklang im mondbeleuchteten Schweigen. Die Schlange wurde zu einer riesigen Spinne, einer haarigen, stachligen Kreatur mit Augen mit vielen Facetten und dicken Beinen, die sich um das hilflose Mädchen schlangen. Die giftigen Mundwerkzeuge zuckten auf sie zu, als sie weiter das Spinnenbein umklammerte, die Stacheln drangen ihr ins Fleisch, bis sie sich die Lippe blutig biss, um nicht zu schreien. Nach der Spinne kam ein Eber mit gelben Hauern und winzigen, wahnsinnigen Augen, nach dem Eber ein seltsames Geschöpf, dessen Namen sie nicht einmal kannte, mit langen, schnappenden Kiefern und wulstiger Haut. Immer noch klammerte Jenny sich fest, obwohl ihre armen Hände bluteten und ihrem Willen kaum mehr gehorchten, so verkrampft waren sie. Einmal blickte sie auf und glaubte zu sehen, dass der Himmel ein wenig heller geworden war. Die Geschöpfe um sie her waren still geworden. Dann lachte die Feenkönigin abermals. ›Nicht schlecht, wirklich nicht schlecht! Du hast dich gut gewehrt. Jetzt müssen wir gehen. Ich hätte gern meinen Jungen zurück, wenn du so nett wärst, ihn gehen zu lassen.‹ Sie bewegte herrschaftlich die Hand, und Jenny spürte, wie tausend Messer in ihre Schulter drangen, und sie hätte beinahe losgelassen. Große Flügel flatterten, und sie hatte in ihren Händen den Fuß eines riesigen Vogels, sein Schnabel so groß wie ein Pferdekopf. Die Krallen bogen sich in dem Versuch, sich loszureißen. Der andere Fuß hatte sich um ihren Arm und Schulter geschlossen, und das riesige Geschöpf zuckte und flatterte und krächzte und stach mit dem tödlichen Schnabel nach links und nach rechts und versuchte, sie abzuschütteln. Sie hörte glockenhelles Feenlachen. ›Das ist mein Mann‹, flüsterte sich Jenny zu. ›Ich liebe ihn. Sie wird ihn nicht bekommen. Ich werde nicht loslassen.‹ Und so sehr der große Vogel sich auch wehrte, er konnte sich nicht aus ihrem Griff losreißen. Dann hörte man plötzlich ein Rascheln und Seufzen und das leise Klappern vieler Hufe, und das erste Morgenlicht ließ die Ränder der Welt zu Silber werden. Das Feenvolk war verschwunden wie Nebelschwaden, und in ihren Armen hielt Jenny ihren Liebsten, der so schlaff war, als wäre er tot, und mit dem heller werdenden Licht verwandelten sich seine schimmernden Kleider in einfaches Grau. ›Tom‹, flüsterte sie, ›Tom.‹ Sie hatte nicht die Kraft, noch mehr zu sagen. Nach einer Weile spürte sie, wie er sich regte und ihr die Arme um die Taille schlang, und er legte seinen Kopf an ihre Brust und murmelte: ›Wo sind wir? Was ist geschehen?‹ Dann nahm Jenny den roten Schal ab und schlang ihn ihrem Liebsten um den Hals, und sie half ihm mit ihren blutenden, verletzten Händen auf die Beine. Sie umarmten einander, und als sich die Sonne zu einem weiteren vollkommenen Tag erhob, gingen sie langsam nach Hause. Und obwohl die Geschichte es nicht erzählt, sollte man doch annehmen, dass sie zusammen ein gutes Leben hatten, denn sie waren zwei Hälften eines Ganzen.«
    Ich hörte ringsumher leises Seufzen. Niemand sagte etwas. Nach einer Weile zogen sich die Männer zurück und legten sich so gut wie möglich auf dem festen Boden nieder. Es würde hier keine Abgeschiedenheit geben. Ich dämpfte die Laterne so gut ich konnte und richtete mich darauf ein, vollständig bekleidet zu schlafen. Aber ich dachte, ich könnte zumindest die Stiefel ausziehen. Als ich mich jedoch bückte, um sie aufzuschnüren, stellte ich fest, dass ich so müde war, dass meine Finger mir nicht mehr gehorchten. Ich war so müde, dass ich beinahe über alles und nichts geweint hätte. Verflucht sollten sie sein! Es wäre so viel leichter gewesen, sie hassen zu können, wie Eamonn es tat.
    »Warte.« Hund kniete neben mir, seine großen Hände lösten geschickt die Schnüre und zogen mir die Stiefel aus. »Was für kleine Füße du hast.«
    Ich nickte zum Dank und war mir der Blicke der Männer bewusst. Es war beinahe dunkel. Ich hörte ein kleines Schneidegeräusch, und dann lag etwas Glattes, Spitzes in meiner Hand, und Hunds große Gestalt zog sich in den Schatten zurück. Als ich mich hinlegte und spürte, wie mich tiefste Müdigkeit überwältigte, steckte ich die Wolfskralle in meine Tasche. Diese Männer waren Mörder. Warum sollte es mich interessieren, was aus ihnen wurde? Warum konnte das Leben nicht einfach sein wie in den Geschichten? Warum … Ich fiel in einen tiefen traumlosen Schlaf.
    ***
    Ich blinzelte, einmal, zweimal. Licht fiel durch den

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