Der Sohn der Schatten
müssen.«
Nach einer Weile legte Bran Evan sanft auf den Boden, den Kopf auf eine Deckenrolle gestützt, damit er leichter atmen konnte.
»Hier«, sagte er und reichte mir die Silberflasche.
»Lieber nicht.« Aber ich nahm sie und dachte dabei, dass das Muster auf seinem Arm aussah, als flösse es über die Hand und den Arm hinauf, unter den Ärmel seines einfachen grauen Hemdes, den er bis zum Ellbogen hochgerollt hatte. »Ich muss wach werden, wenn er aufwacht.«
»Du musst auch manchmal schlafen.«
»Ebenso wie du.«
»Mach dir um mich keine Sorgen. Trink zumindest einen einzigen Schluck. Es wird dir helfen zu ruhen.«
Ich setzte die Flasche an die Lippen und schluckte. Es brannte wie Feuer. Ich keuchte und spürte, wie sich das Glühen in mir ausbreitete. »Du auch«, sagte ich und reichte die Flasche zurück.
Er trank einen Schluck, dann verschloss er die Flasche wieder und stand auf. »Ruf mich, wenn er aufwacht.«
Zum ersten Mal lag eine Art von Hochachtung in seinem Ton. »Du musst nicht alles allein machen.«
Brighid, hilf! Ich wurde plötzlich von tiefer Traurigkeit überwältigt. Arroganz, Verächtlichkeit und Gleichgültigkeit, damit kam ich zurecht. Ruhige Kompetenz war in Ordnung. Mit ihm zu streiten machte beinahe Spaß. Es war diese unerwartete Freundlichkeit, die drohte, mich zerbrechen zu lassen. Ich musste wirklich müde sein. Ich schlief mit einem Bild von Sevenwaters vor meinem geistigen Auge ein: dunkle, schattige Bäume, fleckiges Sonnenlicht, das klare Wasser des Sees. Winzig und vollkommen und oh, so weit entfernt.
KAPITEL 6
Wir entwickelten eine Routine. Wir gewöhnten uns aneinander. Wenn ich schlief, hielt Bran Wache und kümmerte sich um den Schmied. Wenn Bran schlief, was selten geschah, befahl er mir, drinnen zu bleiben, und das tat ich auch. Ein Tag folgte dem anderen, und wir sahen zu, wie das Fieber das Fleisch von Evans Knochen fraß und langsam das Leben aus seinen Augen saugte. Es wäre leicht gewesen für Bran, mich daran zu erinnern, dass ich es gewesen war, die darauf bestanden hatte, diesen Mann lang genug am Leben zu halten, damit er nun einen qualvollen Tod hatte. Es wäre leicht für mich gewesen, Bran die Schuld daran zu geben, dass er den Schmied bewegt hatte, bevor er reisen durfte. Aber wir sprachen nicht von diesen Dingen. Wir sprachen überhaupt nicht viel. Es schien kaum notwendig. Er wusste, wann ich ihn brauchte, und war da. Ich begann zu erkennen, wann er allein sein musste, und dann zog ich mich schweigend in die Kammer zurück oder ging zu dem Teich, um auf den Steinen zu sitzen und mich zur Ruhe zu zwingen. Es gab dort gemeißelte Steine, uralte, gewaltige Steinplatten mit Flechten darauf, umgeben von weichem Farn. Dass hier irgendwelche Wächter der alten Wahrheit hausten, die an dieser Stelle ihren Mittelpunkt hatte, daran zweifelte ich nicht, und ich nickte ihnen voller Achtung jedes Mal zu, wenn ich vorbeikam.
Unsere Gespräche veränderten sich, als bestünde keine Notwendigkeit mehr, mit Worten zu spielen und zu kämpfen. Evan hielt durch, und ich gestattete mir die geringe Hoffnung, dass er noch nicht verloren war. Eines Abends hatten wir beide ein wenig Zeit, draußen zu sitzen unter dem zunehmenden Mond und dem Bogen von tausend Sternen, und aßen Kaninchen, das mit wildem Knoblauch in den Kohlen gebraten war, während die einzigen Geräusche, die uns umgaben, das winzige Rascheln von nächtlichen Geschöpfen im Unterholz und hin und wieder der Ruf einer jagenden Eule war. Es war ein angenehmes Schweigen. Ich begriff, dass ich diesem Mann vertraute – etwas, das ich nie für möglich gehalten hätte.
»Sag mir deine ehrliche Meinung«, meinte er, als wir mit dem Essen fertig waren. »Hat er wirklich eine Chance?«
»Er wird bis morgen Früh leben. Ich versuche, nicht weiter in die Zukunft zu sehen.«
»Du lernst schnell.«
»Einiges schon. Hier draußen ist eine andere Welt. Die alten Übereinkünfte funktionieren offenbar nicht mehr.«
»Das hast du also auch bemerkt. Du scheinst eine Menge von Kräutern und Arzneien zu wissen. Was du benutzt hast, um ihn zum Schlafen zu bringen, als wir seinen Arm abschnitten, war mächtig. Hast du noch etwas davon übrig?«
Ich konnte sein Gesicht im Schatten nicht genau sehen, aber die Augen waren wachsam.
»Ein wenig. Möwe hat eine Bemerkung darüber gemacht. Er hat daran geschnuppert und dann jeden Bestandteil genannt. Das überraschte mich.«
»Seine Mutter war eine Kräuterärztin. In
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