Der Sohn des Alchemisten
weite Wiesen und Felder. Man konnte den nahen Fluss riechen.
»Pepe!«, ließ sich plötzlich eine Stimme aus dem hohen Gras vernehmen. »Wen bringst du da?«
Marie sah auf einem umgestürzten Baumstamm zwei Jungen sitzen, die auf Grashalmen kauten. Der größere stand auf und kam ihnen entgegen.
»Was soll das, Pepe! Wir hatten doch ausgemacht, dass wir keinen Besuch mitbringen.«
Der Junge, der Pepe genannt wurde, kratzte sich am Kopf, grinste verlegen und meinte dann: »Ach was, Jorge, ich musste eine Ausnahme machen. Ein Notfall.«
Jorge spuckte seinen Grashalm aus und musterte erst Marie und dann Jakob.
»Immerhin bringt der Kerl einen Käse als Gastgeschenk«, sagte er dann etwas freundlicher. »Wie heißt du?«
»Jakob«, stellte der sich vor, »Jakob Flamel aus Paris. Du müsstest eigentlich schon von meinem Vater gehört haben, das ist ein sehr gelehrter Mann –«
»Aus Paris? Das liegt weit weg, oder?« Jetzt war auch der dritte Junge dazugetreten.
»Sehr weit«, nickte Jakob eifrig, »ganz genau vier Wochen mit dem Maultier. Da muss man echt hart im Nehmen sein! Na ja, ich bin durchgekommen!«
»Mit meiner Hilfe!«, warf Pepe grinsend ein.
Jakob wurde rot.
»Ich bin Gil«, meinte der dritte Junge und reichte Marie und Jakob die Hand.
Marie schaute sich die drei Jungen an. Pepe hatte einen wirren schwarzen Haarschopf und eine spitze Nase. Jorge war nicht nur der Größte, er wirkte auch am stärksten. Er trug einen breiten Pilgerhut auf dem Kopf. Gil war klein und schmächtig und hatte abstehende Ohren. Alle drei trugen ziemlich zerlumpte Kittel und waren barfuß.
»Hast du außer den zwei Überraschungsgästen auch noch was Brauchbares mitgebracht?«, fragte Jorge. »Wir haben Hunger!«
»Abrakadabra!«, machte Pepe und zauberte unter seinem fleckigen Kittel ein Brot hervor.
Marie staunte. Wie war das zugegangen?
»Wie ich dich kenne, war das noch nicht alles!« Gil schnappte ihm das Brot aus der Hand.
»Geduld, Geduld! Rechts oder links?« Pepe sah Gil auffordernd an. »Rate!«
Gil studierte ausgiebig die Ausbuchtungen in Pepes Hosen. »Links!«
Pepe grinste triumphierend. »Reingefallen. Links ist nur Luft. Aber rechts! Simsalabim!«
Mit einem schnellen Handgriff zog er drei rote Paprikas aus seiner rechten Hosentasche, bevor er unter Applaus aus seinem linken Ärmel eine dicke Gurke herausschüttelte.
»Mahlzeit!«, rief er und winkte Marie und Jakob näher. »Warum so schüchtern! Ihr seid natürlich heute unsere Gäste. Jorge, schau nicht so grimmig. Ich habe die beiden am Markt gerettet, beinah wären sie beim Stehlen erwischt worden!«
Jakob schaute ganz schuldbewusst drein und drehte den runden Käse unschlüssig in seinen Händen.
Jorge warf ihm einen scharfen Blick zu. »Beim Stehlen? Ich dachte, ihr seid vier Wochen lang auf einem edlen Maultier herbeigeritten, als wärt ihr der Graf Gonzalo persönlich? Ist euch der Gaul durchgegangen, oder was?!«
»Jetzt lass sie doch erst mal was essen, Jorge«, sagte Gil und drückte Marie ins Gras. »Die beiden sehen ja total verhungert aus. Hinsetzen! Zugreifen! Hier bitte schön, bedient euch!«
»Ich hätte da auch noch diesen – äh – Käse«, sagte Jakob und legte ihn peinlich berührt in die Mitte.
»Pfui!« Pepe tat, als würde ihm übel werden. »Der ist ja gestohlen!«
»Aber jetzt kann man ihn natürlich schlecht zurückbringen«, sagte Gil und brach sich grinsend ein Stück ab. »Da wäre es doch äußerst schade, wenn er vergammeln würde!«
»Genau!«, nickte Jakob erleichtert und nahm sich auch ein Stück.
Während die Kinder im Gras saßen und Brot und Käse teilten, begannen Pepe und Gil neugierig Fragen zu stellen. Jakob musste die Geschichte seiner Pilgerfahrt erzählen. Und das tat er gerne und ausführlich. Marie war nur froh, dass er diesmal das Buch aus Birkenrinde aus dem Spiel ließ und sich und seinen Vater als ganz normale Pilger aus Paris vorstellte. Pepe interessierte sich für die steile Passage über die Pyrenäen, die hohen Berge zwischen Frankreich und Spanien. Gil wollte alles über die drei Überfälle wissen und zeigte großes Mitgefühl, als Jakob theatralisch zum Besten gab, wie er seinen Vater verloren hatte und bisher kein Mensch am Weg eine Spur von ihm gesehen hatte. Und noch mehr Mitgefühl zeigte er, als Marie erzählte, dass sie überhaupt keinen einzigenVerwandten mehr auf dieser Welt hatte, nicht mal einen verschollenen Vater.
»Mein Vater ist auch gestorben«, sagte er.
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