Der Sohn des Apothekers (German Edition)
der Verkaufsraum leerte.
Er musste lange warten, denn
für jeden Kunden, der ging, betrat ein weiterer die Apotheke. Beinahe eine
Stunde verging. Mehrmals wurde Justin von einer Angestellten nach seinen
Wünschen gefragt, doch wenn er auf den Apotheker zeigte und sagte, dass er mit
Herrn Thiele sprechen wolle, wurde er vertröstet. Er hatte Geduld, schließlich
blieb ihm nichts weiter übrig, denn zu Hause würde ihn der Apotheker bestimmt
nicht empfangen. Doch hier konnte er Justin nicht ausweichen.
Als nur noch zwei Kunden im Verkaufsraum waren, wagte er einen
Vorstoß. Der Apotheker stand hinter der Ladentheke und füllte ein Formular aus,
als er an ihn herantrat.
»Guten Tag, Herr Thiele, hätten Sie einen Augenblick Zeit für
mich?«, fragte Justin freundlich.
Ebenso freundlich blickte der Apotheker auf. »Sicherlich, womit
kann ich Ihnen helfen?«
Justin Belfort zückte seinen Presseausweis. »Ich würde mich
gerne mit Ihnen unterhalten. Nur ein paar Fragen, ich fasse mich kurz. Ich
finde das nämlich eine ganz schwache Leistung der Polizei und ich denke, Ihnen
sollte Gelegenheit gegeben werden, so manches geradezurücken.«
Die Gesichtszüge des Apothekers waren plötzlich wie versteinert,
das Lächeln aus seinem Gesicht verschwunden. Er beugte sich vor. »Verschwinden
Sie!«, zischte er leise. »Verschwinden Sie, bevor ich die Polizei rufe.«
Justin hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin nicht von einem
Klatschblatt, ich komme vom Direkt-Magazin aus Hannover und ich mache
eine Reportage über ungelöste Kriminalfälle und Justizirrtümer. Deswegen bin
ich hier. Sie haben doch sicherlich gehört, dass es eine überraschende Wendung
im vermeintlichen Mordfall von Tennweide gegeben hat. Eines der Mädchen ist
wieder ausgetaucht, lebend. Es ist mir ein Anliegen, den Fall der beiden Radfahrerinnen
in meiner Reportage aufzubereiten, denn ich finde, es wurde viel zu wenig
getan, um das Verbrechen aufzuklären. Schauen Sie sich unser Rechtssystem doch
einmal an, es fehlt an allem, es gibt zu wenig Polizisten und auch die
Kriminaltechnik hinkt der Entwicklung weit hinterher. Über die Justiz und ihre
teilweise weltfremden Entscheidungen möchte ich gar nicht reden.«
Thiele runzelte die Stirn und seine abweisende Haltung lockerte
sich ein wenig.
»Nur eine halbe Stunde Ihrer Zeit«, bat Justin. »Mehr nicht.
Hören Sie mich bitte an, und wenn Sie dann immer noch der Meinung sind, dass
Sie nicht über die Sache reden wollen, dann verschwinde ich und Sie sind mich
los. Falls aber doch, dann könnten Sie den anderen Reportern, die angesichts
der Wendung in diesem Kriminalfall sicherlich noch auftauchen werden, einfach
sagen, dass Sie exklusiv mit dem Direkt-Magazin zusammenarbeiten. Wie
wäre das?«
»Das mit dem Mädchen stimmt wirklich?«, fragte Thiele.
»Ja, es steht mittlerweile fest«, antwortete Justin. »Es gab
einen DNA-Vergleich. Glauben Sie mir, ich spiele mit offenen Karten. Das Direkt-Magazin ist ein seriöses Blatt. Wir haben es nicht nötig, die Leute hinters Licht zu führen.«
Thiele überlegte, schließlich nickte er. »Gut, zwanzig Minuten.
Kommen Sie mit nach hinten.«
Lächelnd folgte Justin Belfort dem Apotheker.
*
Kabel und Messsonden führten von dem reglosen Körper zu den
Apparaten neben dem Bett auf der Intensivmedizinischen Station der Flensburger
Diako-Kliniken. Der behandelnde Arzt betrachtete die Krankenakte. Die junge
Frau lag im Koma. Bei ihrem vermeintlichen Unfall hatte sie mehrere
Knochenbrüche und innere Verletzungen davongetragen, besonders gravierend waren
die Kopfverletzungen. Eine Schädigung des Gehirns konnte man nicht
ausschließen. Es blieb nicht viel mehr, als abzuwarten, ob der ausgemergelte
Körper den Kampf ums Überleben gewinnen oder verlieren würde.
Hauptkommissar Freddy Seelmann vom Flensburger K 1 stand vor
dem Bett und musterte den Arzt fragend.
»Ich kann wirklich nicht sagen, wie lange es noch dauern wird,
bis Sie mit ihr reden können«, sagte der Mediziner. »Wenn Sie überhaupt noch
einmal zu Bewusstsein kommt. Medizinisch gesehen ist sie derzeit stabil, aber
für eine Prognose ist es noch viel zu früh.«
»Sie könnte in der Vergangenheit vergewaltigt worden sein,
steht im Bericht des Rechtsmediziners«, zitierte Freddy Seelmann aus seinem
Notizbuch.
»Das kann gut sein. Sie hat Verletzungen im Vaginalbereich, die
darauf schließen lassen. Aber die sind durchweg älter. Außerdem gibt es
Hautveränderungen an den Handgelenken. Ich bin
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