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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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nördlichen Grenze von Neugalicien. Das Land südlich von hier nannten die Spanier Tierra de Paz, alles im Norden war die Tierra de Guerra. Das Grenzgebiet wurde als Tierra Disputable bezeichnet. Entlang der Grenze befanden sich von Osten nach Westen in kürzeren Abständen Vorposten des Heeres. Zwischen ihnen waren ständig berittene Spähtrupps unterwegs. Die Soldaten überwachten das Gelände, um Überfälle der Völker aus der Tierra de Guerra zu verhindern.
    Jahre früher hatten diese oder andere Wachposten kaum darauf geachtet, als meine Mutter, mein Onkel und ich, scheinbar harmlose Reisende auf dem Weg nach Süden, die Grenze an einer anderen Stelle überschritten. Doch ich wollte mich nicht der Illusion hingeben, daß die Soldaten diesmal ebenso unaufmerksam sein würden. Selbst der nachlässigste Posten würde eine so ungewöhnliche und reizvolle junge Frau wie Zehenspitze anhalten, durchsuchen … und wahrscheinlich noch mehr als das.
    »Also?« fragte sie und stieß mir den Ellbogen in die Rippen.
    Ich brummte: »Ich bin nicht gerade versessen darauf, dich mit einem anderen zu teilen, noch dazu mit einem Weißen.«
    »Ayyo!« erwiderte sie spöttisch. »Du hattest keine Bedenken, den anderen Frauen zu sagen, sie sollten sich demütigen und sich den Soldaten feilbieten.«
    »Die anderen Frauen kenne ich nicht so gut wie dich. Abgesehen davon haben sie keine Männer, die Einwände dagegen erheben könnten, wenn sie zu Fremden gehen. Aber du hast einen Mann.«
    »Dann kann dieser Mann mir auch zu Hilfe kommen. Wollen wir warten, bis einer der Soldaten geht, damit du nur einen umlegen mußt?«
    »Ich vermute, daß keiner der beiden abgelöst wird, bevor nicht ein Spähtrupp von einem anderen Posten kommt. Wenn du wirklich entschlossen bist, können wir meinetwegen auch gleich handeln. Meine Waffe ist geladen. Geh, und wir wollen sehen, was deine Verführungskünste bewirken. Wenn du deinem Opfer den Kopf verdreht hast und der andere daneben steht und glotzt, stößt du einen Schrei aus … vor ekstatischer Bewunderung, vor ungeduldiger Erwartung, was immer du willst, aber laut genug, daß ich es höre. Dann komme ich durch die Tür. Sei bereit, dein Opfer festzuhalten, während ich den anderen erschlage. Danach überwältigen wir den zweiten gemeinsam.«
    »Das klingt einfach.« Sie lachte leise, und mir lief unwillkürlich ein Schauer über den Rücken. »Einfache Pläne sind die besten.«
    »Wir wollen es hoffen. Aber laß dich nicht so weit von deiner ›Aufgabe‹ hinreißen, daß du den Schrei vergißt.«
    Sie fragte spöttisch: »Fürchtest du, daß mir die Umarmung eines Weißen womöglich gefällt und ich ihn am Ende vorziehen könnte?«
    »Nein«, sagte ich. »Wenn du einem Weißen erst einmal nahe genug gekommen bist, um ihn zu riechen, bezweifle ich, daß du ihn mir vorziehen wirst. Aber ich möchte, daß es schnell geht. Der nächste Spähtrupp kommt bestimmt.«
    »Dann … ximopanólti, Tenamáxtli«, sagte sie spöttisch und verabschiedete sich betont förmlich. Zehenspitze richtete sich auf, trat hinter dem Busch hervor und ging den Hang hinunter. Sie bewegte sich langsam, aber nicht zurückhaltend, sondern schwang die Hüften wie beim Quequezcuicatl, dem ›Kitzeltanz‹, wie unser Volk ihn nennt. Die Soldaten mußten sie durch ein Guckloch in ihrer Hütte gesehen haben. Sie traten beide aus der Tür, wechselten einem vielsagenden Blick und beobachteten sie erwartungsvoll, als sie näher kam. Sie traten höflich beiseite, um Zehenspitze eintreten zu lassen. Dann schloß sich die Tür hinter den dreien. Ich wartete und wartete und wartete, hörte aber keinen Schrei von Zehenspitze.
    Nach einer Weile begann ich, mich zu verwünschen, weil mein Plan zu einfach gewesen war. Hatten die Soldaten vermutet, daß die hübsche junge Frau nicht allein war? Hielten sie Zehenspitze fest, während sie mit schußbereiten Waffen daraufwarteten, daß ihr mutmaßlicher Begleiter auftauchte? Schließlich sagte ich mir, daß es nur einen Weg gab, das herauszufinden. Ich mußte das Risiko eingehen. Auch wenn ein Soldat immer noch durch das Guckloch Ausschau hielt, stand ich auf und setzte mich damit möglicherweise voll den Blicken aus der Hütte aus. Als kein Pulver explodierte und niemand mich anrief, lief ich mit der schußbereiten Arkebuse schnell den Abhang hinunter. Da mich immer noch niemand zu bemerken schien, überquerte ich den freien Platz vor der Hütte und drückte das Ohr an die Tür. Ich hörte

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