Der Sohn des Azteken
mir allerdings plötzlich auf erschreckende Weise genommen, denn ich hörte irgendwo hinter uns ein lautes, vertrautes Geräusch. »Das war eine Arkebuse!« stieß ich hervor. Ualiztli und ich brachten die Pferde zum Stehen. Ich hatte kaum ausgesprochen, als ich den unverkennbaren Lärm von Arkebusen hörte, die abgefeuert wurden einzeln, zu mehreren oder sogar gleichzeitig, und das in größerer Zahl. Die Schüsse fielen alle irgendwo hinter uns, wenn auch nicht in sehr großer Entfernung, denn die abendliche Brise trug den beißenden Geruch des Pulverrauchs heran.
»Wie ist es möglich, daß keiner von uns gesehen hat …«, begann ich. Doch dann erinnerte ich mich plötzlich und wußte, was geschah. Ich dachte an den spanischen Vogelsteller am Ufer des Texcóco-Sees, der eine ganze Gruppe von Arkebusen abgefeuert hatte, indem er einfach an einer einzigen Schnur zog. Die Donnerstöcke, die ich gerade hörte, befanden sich nicht in den Händen von Spaniern. Sie waren auf der Erde befestigt oder auf Bäumen. Von jedem Gatillo lief eine gespannte Schnur durch das Unterholz. Unsere Pferde hatten bisher noch keine der Schnüre berührt, doch die Krieger hinter uns traten darauf oder stolperten darüber und mähten ihre eigenen Reihen mit tödlichen fliegenden Bleikugeln nieder.
»Rühr dich nicht von der Stelle!« sagte ich zu Ualiztli. Er protestierte: »Es wird Verwundete geben, um die man sich kümmern muß!« Er wendete sein Pferd. Es sollte sich herausstellen, daß ich mich nicht nur im Hinblick auf den Einfallsreichtum der Verteidiger von Compostela getäuscht hatte. Aber in einem hatte ich doch recht gehabt. Die Krieger meines Volkes konnten sich geräuschlos wie Schatten und so unsichtbar wie der Wind bewegen.
Im nächsten Augenblick warf mich ein heftiger Schlag gegen die Rippen aus dem Sattel. Während ich auf die Erde stürzte, sah ich gerade noch flüchtig einen Mann in aztekischer Rüstung, der ein Maquáhuitl schwang, bevor er noch einmal zuschlug. Allerdings benutzte er die flache Seite des Schwertes, nicht die mit Obsidian besetzte Schneide. Er traf mich am Kopf, und die Welt um mich herum wurde schwarz.
Als ich zu mir kam, saß ich mit dem Rücken an einen Baum gelehnt auf der Erde. In meinem Kopf hämmerte es entsetzlich, und ich sah alles verschwommen. Ich blinzelte mehrmals. Schließlich erkannte ich einen Mann vor mir, der sich auf sein Maquáhuitl stützte und geduldig daraufwartete, daß ich wieder zu mir kam. Ich stöhnte unwillkürlich: »Bei allen Göttern! Ich bin tot und in Mictlan gelandet!«
»Noch nicht, Vetter«, erwiderte Yeyac. »Aber ich versichere dir, du wirst bald dort sein.«
21
Als ich mich bewegen wollte, stellte ich fest, daß ich am Baumstamm festgebunden war. Ualiztli saß ebenfalls gefesselt neben mir. Offenbar hatte man ihn nicht so brutal vom Pferd geworfen, denn er war bei Bewußtsein und stieß leise Verwünschungen aus.
Ich war noch völlig benommen und fragte ihn tonlos und lallend: »Ticitl, sag mir, ist es möglich, daß dieser Mann nach seinem Tod wieder zum Leben erwacht ist?«
»In diesem Fall ist es eindeutig so«, murmelte der Arzt finster. »Die Möglichkeit war mir in den Sinn gekommen, als Ihr mir erzählt habt, daß Ihr ihn mit dem Gesicht nach unten hingelegt hattet, damit er schneller verbluten würde. In Wirklichkeit habt Ihr damit erreicht, daß das Blut an der Einschußstelle geronnen ist. Wenn kein lebenswichtiges Organ verletzt war und die scheintote Leiche von seinen Freunden schnell genug beiseite geschafft wurde, konnte jeder gute Ticitl ihn behandeln und heilen.« Er seufzte und fügte unglücklich hinzu: »Glaubt mir, Tenamáxtzin, ich habe es nicht getan. Aber yya ayya ouiya, Ihr hättet ihn auf den Rücken legen sollen.« Yeyac hatte unserer Unterhaltung belustigt zugehört. »Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, Vetter, eine der Bleikugeln aus dem Hinterhalt, in den meine klugen spanischen Verbündeten dich so geschickt gelockt haben, hätte dich getroffen. Als mir einer meiner Íyactin meldete, er habe dich lebend gefangengenommen, war ich so beglückt, daß ich den Mann auf der Stelle in den Ritterstand erhoben habe.«
Mein verwirrter Kopf klärte sich etwas, und ich knurrte: »Du bist nicht berechtigt, jemanden zum Ritter zu machen.«
»Nein? Aber Vetter, du hast mir doch sogar den Quetzal-Kopfschmuck mitgebracht. Jetzt bin ich wieder der Uey-Tecutli von Aztlan.«
»Warum läßt du mich am Leben, da ich doch diese
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