Der Sohn des Azteken
Arbeiten wurden auch Frauen und sogar Kinder herangezogen. Die Mexíca zeigten den Azteca, wie die Arbeit verrichtet wurde, und beaufsichtigten sie dann. Dabei gaben sie Anweisungen, schimpften, korrigierten, tadelten und lobten, bis die Azteca nach einiger Zeit viele neue Dinge selbständig tun konnten. Ich selbst habe lange vor dem Tag meiner Namensgebung leichte Lasten getragen, den Männern Werkzeuge gebracht und Essen und Trinken an die Arbeiter verteilt. Frauen und Mädchen lernten, mit neuen Materialien zu weben und zu nähen – Baumwolle, Metl-Stoff und Faden und Reiherfedern –, die sehr viel feiner waren als die bisher verwendeten Palmfasern. Am Ende eines Arbeitstages ließen die Mexica-Aufseher unsere Männer nicht einfach nach Hause gehen, damit sie herumlagen und sich mit der vergorenen Kokosmilch betranken. Nein, die Aufseher übergaben unsere Männer den Mexica-Kriegern. Auch diese hatten im allgemeinen den ganzen Tag schwer gearbeitet, aber das hinderte sie nicht daran, ihre eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Unsere Männer bekamen von ihnen eine militärische Grundausbildung. Sie lernten exerzieren, paradieren, den Kampf mit dem Obsidianschwert sowie den Umgang mit Pfeil und Bogen und Speer. Der Einsatz lohnte sich, denn im Laufe der Zeit stellten sie ihren meisterhaften Gebrauch dieser Waffen unter Beweis. Danach übten sie verschiedene Kampftaktiken und Manöver. Frauen und Kinder waren von der militärischen Ausbildung befreit. Von den Frauen neigten jedoch nur wenige dazu, sich die freie Zeit mit Trinken und Nichtstun zu vertreiben. Die Knaben, und dazu gehörte auch ich, wären überglücklich gewesen, an der militärischen Ausbildung teilnehmen zu dürfen, aber das wurde uns nicht erlaubt, solange wir nicht alt genug waren, das Schamtuch zu tragen.
Ich möchte darauf hinweisen, daß die völlige Umgestaltung von Aztlan und die grundlegende Veränderung seiner Bewohner natürlich nicht so plötzlich geschah, wie es meinem Bericht nach den Anschein haben mag. Ich wiederhole, zu Beginn dieser Ereignisse war ich noch ein Kind. Also schien sich für mich das Niederreißen des alten Aztlan und das Errichten des neuen im gleichen Tempo und ebenso unmerklich und unauffällig zu vollziehen, wie ich selbst wuchs, stärker, reifer und klüger wurde. Erst im Rückblick kann ich mir die vielen Versuche und Irrtümer, die mühsame Arbeit, den Schweiß und die schweren, langen Jahre, die notwendig waren, um Aztlan zu kultivieren, vor Augen führen. In meinem Bericht übergehe ich, daß es beinahe ebenso viele Rückschläge, Enttäuschungen und mißlungene Versuche gab, die ebenfalls mit diesem Vorgang verbunden waren. Doch das Unternehmen gelang, wie Onkel Mixtzin es befohlen hatte, und am Tag meiner Namensgebung, nur wenige Jahre nach der Ankunft der Mexica, waren bereits die Telpochcáltin-Schulen erbaut und warteten darauf, daß ich dort am Unterricht teilnahm. Morgens gingen ich und die anderen Jungen meines Alters sowie eine ganze Reihe älterer Jungen, die vorher keine Schule besucht hatten, in das Haus der Körperstärkung. Dort machten wir unter Anleitung eines Mexica-Kriegers Übungen zur Kräftigung unserer Muskeln. Bei ihm lernten wir das äußerst komplizierte rituelle Ballspiel, das Tlachtli. Schließlich brachte er uns auch die Grundzüge des Kampfs von Mann gegen Mann bei. Allerdings hatten unsere Schwerter, Pfeile und Speere keine Klingen oder Spitzen aus Obsidian, sondern nur mit roter Farbe getränkte Federbüsche, die blutige Treffer vortäuschen sollten.
Nachmittags besuchten ich und die Jungen zusammen mit gleichaltrigen Mädchen das Haus für Anstand und Sitte. Dort unterrichtete uns ein Priester in Hygiene und Sauberkeit – Dinge, von denen sehr viele Kinder der unteren Schichten keine Ahnung hatten. Außerdem erlernten wir das Singen ritueller Lieder und die Aufführung zeremonieller Tänze sowie das Spielen einiger Musikinstrumente – zum Beispiel verschieden großer, unterschiedlich gestimmter Trommeln, der Flöte mit vier Löchern und des Trillerkrugs. Um die Zeremonien und Rituale richtig vollziehen zu können, mußten wir lernen, die Lieder, die Trommelschläge, die Bewegungen und Gesten genauso wiederzugeben, wie es seit alter Zeit geschah. Der Priester verteilte dazu ein Blatt mit gezeichneten Anweisungen. Auf diese Weise erlernten wir bereits in Ansätzen die Wortkunde. Meine Mutter konnte nicht lesen oder schreiben, obwohl sie dem höchsten Adelsgeschlecht von Aztlan
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