Der Sohn des Azteken
Berge, kreisten die Abtrünnigen ein und erschlugen viele von ihnen. Zu den Überlebenden sagte er, ›nehmt euren abscheulichen neuen Gott und eure Familien und verschwindet, oder ihr werdet bis auf den letzten Mann, die letzte Frau und das letzte Kind, selbst bis auf das letzte Kind im Mutterleib erschlagen‹.«
»Und sie sind gegangen«, sagte ich.
»Das haben sie getan. Nachdem sie mehrere lange Jahre herumgezogen waren und neue Generationen geboren worden waren, erreichten sie schließlich eine andere Insel in einem anderen See, wo sie das Wahrzeichen ihres Kriegsgottes sahen – einen Adler, der auf einem Nopáli-Kaktus saß. Also ließen sie sich dort nieder. Sie nannten die Insel Tenochtitlan, Ort des Tenoch. Das war in einem inzwischen vergessenen örtlichen Dialekt das Wort für den Nopáli-Kaktus. Aus einem Grund, den herauszufinden ich mir nie die Mühe gemacht habe, gaben sie sich einen neuen Namen: ›Mexica‹. Im Laufe vieler Jahre waren sie erfolgreich; sie führten Kriege und unterwarfen zuerst ihre Nachbarn und dann weiter entfernt lebende Völker.« Canaútli zuckte resigniert die knochigen Schultern. »Und nun, Tenamáxtli, sind wir durch die Bemühungen deines Onkels und jenes Mexicatl, der ebenfalls Mixtli heißt, zum Guten oder zum Schlechten wieder miteinander vereint. Wir werden sehen, was daraus entsteht. Aber jetzt will ich mich nicht länger erinnern. Geht Kinder, laßt mich allein.«
Wir wandten uns zum Gehen, doch ich drehte mich noch einmal um und fragte: »Die Yaki-Frau, G’nda Ké …. was ist aus ihr geworden?«
»Als der Tlatocapili die sieben Höhlen stürmte, war sie unter den ersten, die erschlagen wurden. Aber sie hatte sich mit mehreren ihrer Anhänger gepaart. Deshalb fließt ihr Blut zweifellos in den Adern vieler Mexica-Familien. Vielleicht in den Adern aller. Das würde erklären, daß die Mexica immer noch so kriegerisch und blutrünstig sind, wie diese Frau es war.«
Ich werde nie erfahren, weshalb Canaútli es damals unterließ, mir zu sagen, daß ich mit großer Wahrscheinlichkeit zumindest einen Tropfen von dem Blut der Yaki-Frau in mir hatte und in Anspruch nehmen konnte, das erste Ergebnis einer Familienverbindung von Azteca und Mexíca zu sein. Denn ich war von einer Aztéca-Mutter geboren und von Mixtli, dem Mexicatl, gezeugt worden. Vielleicht zögerte der alte Mann, mir das zu sagen, weil er es seiner Enkeltochter überlassen wollte, das Familiengeheimnis entweder zu enthüllen oder zu wahren.
Eigentlich kann ich mir nicht erklären, warum sie es verschwieg. In meiner Kindheit lebten in Aztlan so wenige Menschen und sie waren so eng miteinander verbunden, daß viele gewußt haben müssen, wer mein Vater war. Eine gewöhnliche Frau der Macehuáli-Schicht, die ein uneheliches Kind zur Welt gebracht hätte, wäre wahrscheinlich streng getadelt und möglicherweise bestraft worden. Aber als Schwester des damaligen Tlatocapili und späteren Uey-Tecutli mußte Cuicáni einen Skandal kaum fürchten. Trotzdem ließ sie mich bis zu jenem schrecklichen Tag in der Stadt Mexico in Unwissenheit über meinen Vater. Ich kann nur vermuten, daß sie all die Jahre hoffte, der andere Mixtli werde eines Tages nach Aztlan und in ihre Arme zurückkehren und sich darüber freuen, daß sie einen Sohn hatten.
Um ehrlich zu sein, ich weiß auch nicht, weshalb ich mich weder in meiner Kindheit noch später nach meinem Vater erkundigte. Yeyac und Améyatl hatten einen Vater und keine Mutter; ich hatte eine Mutter, aber keinen Vater. Ich muß mir gesagt haben, daß etwas so Offensichtliches nur normal und allgemein üblich sein konnte. Weshalb sollte ich dann darüber nachdenken?
Meine Mutter machte gelegentlich stolze mütterliche Bemerkungen. »Ich sehe, Tenamáxtli, daß du einmal ein gutaussehender Mann mit ausgeprägten Zügen werden wirst, genau wie dein Vater.« Oder: »Du bist sehr groß für dein Alter, mein Sohn. Aber das war dein Vater auch. Er war viel größer als die meisten Männer.« Doch ich achtete kaum auf solche Äußerungen. Jede Mutter glaubt, ihr Küken werde sich als Adler entpuppen.
Sicherlich würde mich, wenn jemand eine anzügliche Andeutung gemacht hätte, so etwas dazu veranlaßt haben, Fragen nach meinem Vater zu stellen. Doch ich war der Neffe des Herrschers und der Sohn seiner Schwester, die im Palast wohnten, und niemand mit einem Funken Vernunft hätte es gewagt, Mixtzins Unwillen zu erregen. Ich wurde nie von meinen Spielkameraden oder den
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