Der Sohn des Azteken
angehörte. Onkel Mixtzin hatte bereits vor langer Zeit als Dorf-Tlatocapili unter Anleitung jenes Mexicatl-Besuchers, des anderen Mixtli, angefangen, beides zu studieren. Er lernte sein ganzes Leben lang. Auf dem Rückweg von Tenochtitlan setzte er sich jeden Abend im Lager mit einem Priester aus seinem großen Gefolge von Mexica zusammen und ließ sich unterrichten. Nach der Ankunft in Aztlan behielt er diesen Priester als persönlichen Lehrer bei sich. Als ich die Schule begann, konnte er bereits Berichte in Weltbildern über die Fortschritte in Aztlan an Motecuzóma schicken. Mehr noch, er gönnte sich das Vergnügen, Gedichte zu verfassen – die Art Gedichte, die wir, die ihn kannten, auch von ihm erwartet hatten – spöttische Betrachtungen über die Unvollkommenheiten des Menschen, der Welt und des Lebens im allgemeinen. Er las sie uns vor. An eines kann ich mich noch gut erinnern.
Verzeihen?
Du darfst niemals verzeihen!
Aber gib vor zu verzeihen.
Sag freundlich, du würdest verzeihen.
Überzeuge die anderen, daß du verziehen hast.
Dann ist die Wirkung verheerend,
Wenn du ihnen schließlich mit einem vernichtenden
Satz an die Kehle springst.
Selbst in den niederen Schulen lernten wir ein wenig von der Geschichte der EINEN WELT. Obwohl ich noch klein war, fiel mir auf, daß sich manches, was man uns sagte, beachtlich von dem unterschied, was uns mein Urgroßvater, der Geschichtserinnerer von Atzlan, gelegentlich im Familienkreis anvertraute. So konnte man nach den Erklärungen des Mexicatl-Priesters glauben, das ganze Volk der Mexica sei eines Tages plötzlich der Erde der Insel Tenochtitlan entsprungen, und zwar gebildet, zivilisiert und kultiviert und im Vollbesitz seiner Kräfte. Das widersprach jedoch dem, was ich, mein Vetter und seine Schwester von Urgroßvater Canaútli gehört hatten. Deshalb gingen Yeyac, Améyatl und ich zu ihm und baten um eine Erklärung.
Er lachte und sagte nachsichtig: »Ayya, die Mexica sind ein Volk von Aufschneidern. Manche verdrehen ohne Gewissensbisse unbequeme Tatsachen, damit sie dem edlen Bild entsprechen, das sie von sich haben.« Ich sagte: »Als Onkel Mixtzin die Mexica mitbrachte, hat er sie als ›unsere Vettern‹ vorgestellt und von irgendwelchen lange vergessenen Familienbanden gesprochen.«
»Ich könnte mir denken«, antwortete der alte Canaútli, »daß die meisten lieber nichts von diesen Banden gehört hätten. Aber es ist die Wahrheit, die sich nicht verheimlichen oder verdrehen läßt, nicht seitdem dein …. ich meine, seitdem dieser andere Mixtli den Ort zufällig gefunden und Motecuzóma von unserer Existenz berichtet hatte. Wißt ihr, dieser andere Mixtli hat mich, so wie ihr drei es gerade getan habt, nach der wahren Geschichte der Azteca und ihrer Beziehung zu den Mexica gefragt. Er glaubte alles, was ich ihm erzählt habe.«
»Wir werden dir auch glauben!« rief Yeyac. »Sag uns die Wahrheit.«
»Unter einer Bedingung. Benutzt nichts von dem, was ihr von mir erfahrt, dazu, eure Lehrer zu verbessern oder ihnen zu widersprechen. Die Mexica sind sehr gut zu uns. Es wäre nicht richtig von euch Kindern, wenn ihr die lächerlichen, aber harmlosen Täuschungen widerlegen würdet, an denen die Mexica festhalten.« Wir versprachen ihm alle drei, das nicht zu tun. »Dann hört zu, Yeyac-Chichiquíli, Patzcatl-Améyatl und Téotl-Tenamáxtli. Vor langer Zeit, vor vielen, vielen Jahren, aber zu einer Zeit, die jedem Geschichtserinnerer bekannt ist und von der er seinem Nachfolger berichtet, war Aztlan nicht nur eine kleine Stadt am Meer. Es war die Hauptstadt eines Landes, das sich bis weit in die Berge erstreckte. Wir lebten einfach – heute würden die Leute sagen ›primitiv‹. Aber es ging uns gut, und wir litten selten Not. Das hatten wir unserer Mondgöttin Coyolxaúqui zu verdanken, die sicherstellte, daß uns die dunklen Fluten des Meeres und die dunklen Wälder der Berge reichlich mit Nahrung versorgten.«
Améyatl unterbrach ihn: »Du hast einmal gesagt, daß wir Azteca früher keine anderen Götter verehrten.«
»Das stimmt. Wir haben nicht einmal jene Götter verehrt, die ebenso wohltätig sind wie Coyolxaúqui.« Er lachte. »Der Regengott Tlaloc, um nur einen zu nennen. Sieh dich um, Mädchen. Was brauchen wir Tlaloc darum zu bitten, daß er uns Wasser schenkt?« Er schüttelte bedächtig den Kopf. »Nein, wir waren zufrieden mit den Dingen, wie sie waren. Das bedeutet nicht, daß wir Schwächlinge gewesen wären. Ayyo,
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