Der Sohn des Azteken
nicht zu sagen, daß ich nichts mehr mit der Kirche zu tun haben wollte. Ich nahm weiterhin an der Unterweisung im christlichen Glauben teil, weil meine Pläne immer noch sehr verschwommen waren. Der Unterricht beschränkte sich beinahe ausschließlich auf das Auswendiglernen von Regeln, Ritualen und Liturgien, wie zum Beispiel dem Vaterunser, aber in einer Sprache, die selbst die Spanier nicht vorgaben zu verstehen. Wenn die Klasse den Gottesdienst, die sogenannte Messe, besuchte, weil Tete Diego darauf bestand, ging ich manchmal mit. Ich vermutete, daß auch das, was dort gesprochen wurde, für alle, bis auf die Priester und Acólitos, die sie zelebrierten, unverständlich war. Wir Eingeborenen und Mestizen mußten auf einer abgetrennten Galerie sitzen. Der Gestank der vielen ungewaschenen Spanier wäre sogar dort oben ohne die betäubenden Weihrauchwolken unerträglich gewesen. Da ich mich nie sonderlich für meine eigene Religion interessiert hatte, wenn man davon absieht, daß ich mich über die vielen Festlichkeiten freute, die dazugehörten, war mein Interesse für eine neue Religion auch nicht größer. Und erst recht rümpfte ich verächtlich die Nase über das Christentum, das nicht weiter als drei zählen konnte, denn nach meiner Zählung gab es mindestens vier, vielleicht sogar fünf höchste Gottheiten, die jedoch als Trinität bezeichnet wurden.
Trotz der Ungereimtheit der christlichen Lehre machte Tete Diego immer wieder unsere alte Religion lächerlich, weil sie eine Überfülle von Göttern habe. Sein rosarotes Gesicht verfärbte sich blau, als ich ihn eines Tages darauf hinwies, daß das Christentum angeblich nur einen einzigen Gott anerkenne, in Wirklichkeit aber die verehrungswürdigen Wesen mit dem Namen ›Heilige‹, ›Engel‹ und ›Erzengel‹ doch in beinahe ebenso hohem Ansehen stünden. Ihre Zahl übersteige sogar die Anzahl unserer Götter, und mehrere von ihnen schienen ebenso zornig und rachsüchtig zu sein wie unsere dunkleren Götter, die von den Christen als Dämonen beschimpft wurden. Der Hauptunterschied, den ich zwischen unserer und Tete Diegos Religion sehe, so erklärte ich, sei der, daß wir unseren Göttern Nahrung gaben, während die Christen ihre in dem Ritual mit dem Namen ›Kommunion‹ aßen oder zumindest vorgaben, es zu tun. Ich fuhr fort: »Es gibt viele andere Punkte, in denen das Christentum keinen Fortschritt gegenüber unserem alten Heidentum darstellt, wie Ihr es nennt, Tete. Zum Beispiel beichten auch wir unsere Sünden der freundlichen und vergebenden Göttin Tlazoltéotl, deren Namen Unrat-Fresserin bedeutet. Sie spricht uns von den Sünden los, wie die christlichen Priester, und sie ermahnt uns zu aufrichtiger Reue. Und was das Wunder der jungfräulichen Geburt angeht, so verdanken ihr einige unserer Gottheiten ihre Existenz, ja sogar einer der sterblichen Herrscher der Mexíca. Es handelt sich dabei um den ersten Motecuzóma, den Großen Verehrten Sprecher. Er war ein Großonkel des anderen Motecuzóma, der zur Zeit der Ankunft von euch Spaniern herrschte. Als er empfangen wurde, war seine Mutter noch Jungfrau und …«
»Das reicht!« Tete Diegos kahler Kopf war ganz blau angelaufen. »Du hast einen merkwürdigen Sinn für Humor, Juan Británico, aber für heute war das genug Spott und Hohn. Deine Worte grenzen an Gotteslästerung, ja sogar an Ketzerei. Verlaß das Klassenzimmer und komm nicht zurück, bevor du bereut und gebeichtet hast, aber nicht einem schmutzigen dämonischen Vielfraß, sondern einem christlichen Beichtvater!« Ich habe nie gebeichtet, weder damals noch später. Doch ich gab mir größte Mühe, geläutert und reumütig zu wirken, als ich am nächsten Tag im Unterricht erschien. Ich nahm auch weiterhin am Unterricht teil, wenn auch der Grund dafür nicht das geringste mit dem Vergleich abergläubischer religiöser Vorstellungen zu tun hatte und auch nicht mit der Erforschung spanischen Denkens und Verhaltens oder der Förderung meiner Pläne für die Revolution. Ich saß inzwischen einzig und allein im Klassenzimmer, damit ich Rebeca Canalluza sah und von ihr gesehen wurde. Ich hatte bisher weder mit einer weißen noch mit einer schwarzen Frau Ahuilnéma gemacht, und vielleicht würde sich mir auch nie die Gelegenheit dazu bieten. Doch in Rebeca Canalluza konnte ich in gewisser Hinsicht beide Art Frauen gleichzeitig haben. Das heißt, sie war das, was Alonso mit Mulattin bezeichnet hatte, ein Ergebnis der Paarung von Schwarz und
Weitere Kostenlose Bücher