Der Sohn des Azteken
den Buchstaben ›X‹ dargestellt wird, mit dem sie meinen Namen schrieben.
Ich erhob mich deshalb schlaftrunken von meinem Lager, warf mir den Mantel über und ging die Treppe hinunter, an deren Fuß der alte Mann stand. »Señor Tennamotch?« fuhr er mich an, denn er war selbst wütend über die Störung. »Hay aquí una mujer insistente e importuna. La vejezuela demanda a hablar contigo.«
Eine Frau, die hartnäckig darauf bestand, mich zu sprechen? Das einzige weibliche Wesen, von dem ich mir vorstellen konnte, daß es mich möglicherweise um Mitternacht aufsuchen würde, war Rebeca, das Mulattenmädchen. Aber das war höchst unwahrscheinlich. Außerdem hatte der Wächter sie als ›eine Alte‹ bezeichnet. Verwirrt folgte ich ihm zum Tor. Dort stand in der Tat eine alte Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Tränen rannen ihr über das faltige Gesicht, als sie auf náhuatl sagte: »Ich bin die Hebamme von Citláli, der jungen Frau, die mit dir befreundet ist. Das Kind ist geboren, aber der Vater ist tot.«
Ich erschrak, allerdings nicht zu sehr, um nicht geistesgegenwärtig zu sagen: »Du meinst sicher die Mutter.« Sogar ich wußte, daß auch die gesündeste Frau bei einer Geburt sterben konnte. Aber es versetzte mir einen Stich ins Herz, daß es die liebe Citláli getroffen hatte. »Nein, nein! Der Vater … Netzlin!«
»Was? Wie ist das möglich?« Dann fiel mir ein, wie besessen er von der Vorstellung gewesen war, einen Sohn zu bekommen. »Ist er vor Aufregung und Freude gestorben? Oder an einem Schlag von der Hand eines Gottes?«
»Nein, nein. Er hat im Vorderzimmer gewartet und ist auf und ab gegangen. Sobald das Kind im anderen Zimmer den ersten Schrei von sich gab, ist Netzlin hinaus auf die Straße gestürmt und hat gerufen: ›Ich habe einen Sohn!‹ Dabei hatte er das Kind überhaupt noch nicht gesehen.«
»Und? Hat er beim Zurückkommen festgestellt, daß es ein Mädchen ist? Hat ihn das umgebracht?«
»Nein, nein. Er hat alle Männer im Barrio zusammengerufen und große Mengen Octli für sie gekauft. Sie haben sich betrunken, aber er war sehr viel betrunkener als die anderen.«
»Und das hat ihn umgebracht?« fragte ich ungeduldig. »Alte Mutter, aus dir wird nie eine Geschichtenerzählerin. Du bleibst am besten Hebamme.«
»Na ja … nein, ich glaube, nach der Nacht werde ich selbst diesen bescheidenen Beruf aufgeben und …«
»Willst du endlich weiterreden?« rief ich und sprang vor Ungeduld beinahe in die Luft.
»Gut, man könnte sagen, das Trinken hat den armen Netzlin umgebracht. Die Soldaten der Nachtwache haben ihn aufgegriffen. Sie haben ihn zu Tode geprügelt und erstochen.«
Ich war zu bestürzt, um etwas zu sagen. Die alte Frau fuhr fort: »Die Nachbarn sind gekommen und haben es uns gesagt. Citláli war ohnehin schon völlig außer sich. Die Nachricht von Netzlins Tod zu allem anderen hat sie dann beinahe um den Verstand gebracht. Aber sie war noch in der Lage, mir zu sagen, wo ich dich finden würde, und …«
»Was meinst du mit zu all dem anderen? Hat sie bei der Geburt Verletzungen erlitten? Hat sie Schmerzen? Ist sie in Gefahr?«
»Komm mit, Tenamáxtli. Sie braucht Trost. Sie braucht dich.«
Anstatt weiter ungeduldig Fragen zu stellen und unverständliche Antworten zu bekommen, die mich beinahe um den Verstand brachten, sagte ich: »Gut, beeilen wir uns.«
Als wir uns dem unbeleuchteten Haus näherten, hörten wir kein Schreien, kein Seufzen und kein Klagen. Ich ließ die alte Frau vorausgehen und wartete im Vorderzimmer, während sie auf Zehenspitzen in dem anderen Raum verschwand. Sie kam mit dem Finger auf den Lippen zurück und flüsterte: »Sie schläft endlich.«
»Sie ist nicht tot?« fragte ich mit angehaltenem Atem. »Nein, nein. Sie schläft, und das ist gut so. Aber komm mit und sieh dir das Kind an. Sei leise, es schläft auch.« Mit einer Zange nahm sie ein Stück Glut aus dem Herd, entzündete damit die Kokosöl-Lampe und führte mich in das Nebenzimmer, wo Citláli schlief. Das Kind lag in einer mit Stroh gefüllten Kiste neben ihrem Bett. Die alte Frau hielt die Lampe hoch, damit ich es betrachten konnte. Es war ordentlich gewickelt und sah für mich wie jedes andere Neugeborene aus – rosig und runzlig wie die Hebamme, aber offenbar heil mit allem, was dazugehörte, mit Ohren, Fingern, Zehen und so weiter. Die Haare fehlten, aber das war nichts Ungewöhnliches. »Warum möchtest du, daß ich es mir ansehe, alte Mutter?« flüsterte ich. »Ich
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