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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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sie vorsichtig vom Xitli und breitete sie zum Trocknen auf einem Stück Rindenbastpapier aus. Dann stellte ich den Topf versuchsweise auf das Feuer, bis der verbliebene Urin zu kochen begann. Das verursachte einen schrecklichen Gestank. Citláli rief mit gespieltem Entsetzen, sie bedaure, mich in ihrem Haus aufgenommen zu haben. Doch mein Versuch war erfolgreich. Als das Xitli schließlich eingekocht war, befanden sich noch mehr der kleinen Kristalle im Topf.
    Während die weißen Körnchen trockneten, ging ich zum Markt und fand dort ohne große Mühe Holzkohle und den gelben Schwefel. Ich erstand von beidem etwas und trug es nach Hause. Ich zerstampfte die Brocken mit dem Absatz meines spanischen Stiefels zu Pulver. Citláli, die nach der Geburt immer noch ruhebedürftig war, zerrieb die Xitli-Kristalle auf einem Métlatl-Stein. Dann mischte ich das schwarze, das gelbe und das weiße Pulver zu gleichen Anteilen auf dem Rindenbastpapier. Als Vorsichtsmaßnahme gegen einen möglichen Unfall trug ich das Papier hinaus auf die staubige Gasse vor dem Haus. Der Gestank des kochenden Urins hatte bereits zahlreiche Kinder aus der Nachbarschaft angelockt. Sie beobachteten neugierig, wie ich ein Stück Glut von der Feuerstelle an das Pulvergemisch hielt. Sie jubelten, obwohl das Ergebnis weder Blitz noch Donner war, sondern nur wenige zischende Funken sprühten und ein paar Rauchwölkchen aufstiegen.
    Ich war nicht allzu sehr enttäuscht und bedankte mich bei den Kindern für den Beifall mit einer Verbeugung. Bei der kleinen Menge Pulver, die von dem jungen Soldaten stammte, war mir bereits klargeworden, daß die Mischung nicht zu gleichen Teilen aus schwarzem, weißem und gelbem Pulver bestand. Doch ich mußte irgendwie beginnen. In einer Hinsicht erwies sich der erste Versuch als Erfolg. Das blaue Rauchwölkchen roch genau wie der Rauch aus den Arkebusen am See. Also waren die aus dem weiblichen Urin gewonnenen Kristalle tatsächlich der dritte Bestandteil des Schießpulvers. Offensichtlich mußte ich diese Bestandteile nur in verschiedenen Anteilen miteinander mischen, um irgendwann das richtige Verhältnis herauszufinden. Mein größtes Problem bestand jedoch darin, genug Xitli-Kristalle zu bekommen. Ich dachte schon daran, die Kinder zu bitten, mir alle Axixcáltin ihrer Mütter zu bringen, doch ich verwarf den Gedanken wieder, denn das hätte zu Fragen der Nachbarn geführt. Wahrscheinlich wäre ihre erste Frage gewesen, wieso ein Verrückter plötzlich auf ihren Straßen herumlief.
    Es vergingen einige Monate, in denen ich bei jeder Gelegenheit Urin kochte, bis sich vermutlich die ganze Nachbarschaft an den Gestank gewöhnt hatte, obwohl er mich allmählich gründlich anekelte. Doch diese Arbeit brachte mir Kristalle ein, wenn auch nur in geringer Menge. Deshalb war es schwierig, das weiße Pulver in unterschiedlichen Anteilen mit den der beiden anderen Zutaten zu mischen. Ich führte genaue Aufzeichnungen über meine Versuche. Dazu benutzte ich ein Stück Papier, das ich sorgfältig hütete, damit ich es nicht verlor. Zum Beispiel notierte ich: ›2 Teile schwarz, 2 gelb, 1 weiß; 3 Teile schwarz, 2 gelb, 1 weiß‹ und so fort. Doch keine Mischung, die ich erprobte, führte zu einem ermutigenderen Ergebnis als beim ersten Mal, als ich das Pulver im Verhältnis eins zu eins zu eins gemischt hatte. Das heißt, meist sprühten nur Funken, es zischte und rauchte, und manchmal geschah überhaupt nichts. Ich hatte dem Notarius Alonso erklärt, weshalb ich nicht mehr am Unterricht im Kollegium teilnahm. Er teilte meine Ansicht, daß sich mein Spanisch fortan am schnellsten verbessern werde, wenn ich es im täglichen Umgang sprach und hörte, anstatt weiterhin die Regeln zu lernen. Er billigte allerdings weniger, daß ich dem Religionsunterricht von Tete Diego fernblieb. »Du gefährdest die Rettung deiner unsterblichen Seele, Juan Británico«, sagte er ernst. Ich hielt ihm entgegen: »Wird Gott es nicht als gute Tat ansehen, wenn ich mein Seelenheil aufs Spiel setze, um eine hilflose Witwe zu unterstützen?«
    »Hmm …« Er wirkte verunsichert. »Das solltest du aber nur so lange tun, bis sie für sich selbst sorgen kann, Cuati Juan. Dann mußt du dich wieder auf die Konfirmation vorbereiten.«
    Danach erkundigte er sich bei mir in regelmäßigen Abständen nach dem Gesundheitszustand der Witwe. Ich konnte ihm jedesmal ehrlich berichten, daß sie immer noch ans Haus gefesselt war, weil sie für ihr blindes Kind sorgen

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