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Der Sohn des Azteken

Der Sohn des Azteken

Titel: Der Sohn des Azteken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gary Jennings
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habe schon früher kleine Kinder gesehen, und das hier scheint sich nicht von anderen zu unterscheiden.«
    »Ayya, mein lieber Tenamáxtli, es hat keine Augen.«
    »Das Kind ist blind? Wie kannst du das feststellen?«
    »Nein, nicht nur blind, es hat keine Augen. Sieh genauer hin.«
    Da sie gesagt hatte, das Kind schlafe, hatte ich angenommen, seine Augen seien geschlossen. Doch jetzt stellte ich fest, daß die Linie der Wimpern fehlte. Wo Augenlider hätten sein sollen, waren die Höhlen von den zierlichen kleinen Brauen bis zu den Wangenknochen mit derselben zarten Haut überzogen wie das ganze Gesicht. An der Stelle, wo man Augäpfel erwartete, befanden sich nur leichte Vertiefungen.
    »Bei der Finsternis von Mictlan«, murmelte ich entsetzt. »Du hast recht, alte Mutter. Es ist eine Mißgeburt.«
    »Deshalb war Citláli schon völlig außer sich, bevor sie noch von Netzlins Tod gehört hatte. Wenigstens ist ihm das erspart geblieben.« Nach kurzem Zögern fragte sie: »Soll ich es in den Kanal werfen?«
    Das wäre für Citláli und ihr Kind das Gnädigste gewesen. Nach alter, in der gesamten EINEN WELT herrschender Sitte, hätte man es in der Tat tun müssen. Kinder, die mit körperlichen oder geistigen Gebrechen zur Welt kamen, wurden beseitigt, sobald man die Mißbildung entdeckte. Das war natürlich, und es wurde allgemein für richtig gehalten, daß solche Wesen nicht aufwuchsen und sich selbst oder der Gemeinde zur Last fielen oder, noch schlimmer, vielleicht ähnlich verunstaltete Kinder bekamen. Niemand beweinte oder bedauerte die schnelle Beseitigung dieser Unglückseligen, und niemand hatte etwas dagegen einzuwenden. Es war eine offensichtliche Notwendigkeit, um die guten körperlichen und geistigen Eigenschaften zu erhalten. Ein Volk, die Wolkenmenschen von Uaxyácac, die für ihre Schönheit berühmt waren, tötete sogar häßliche kleine Kinder. Aber ich wußte, daß wir nicht mehr in der EINEN WELT lebten und nach unseren alten weisen Traditionen handeln konnten. Mir war bekannt, daß die Christen die von ihnen verachteten Nachkömmlinge der verschiedensten Hautfarben am Leben ließen – selbst jene elenden Geschöpfe mit weiß und braun gefleckter Haut, die sie Pintojos nannten, von denen sich jedermann gleich welcher Hautfarbe voll Abscheu abwandte. Vielleicht forderte ein christliches Gesetz, daß jedes Neugeborene, auch ein unehelich gezeugtes und aus irgendeinem Grund unerwünschtes Kind, um jeden Preis großgezogen werden mußte, ganz gleich, welches Elend für die Eltern, für das bedauernswerte Lebewesen selbst und den Rest der Gesellschaft dadurch entstand. Ich war nicht sicher und würde Alonso fragen müssen, ob die Christen tatsächlich einen so unmenschlichen Standpunkt vertraten. Das Geschick dieses armen Wesens mußte nicht sofort entschieden werden. Deshalb sagte ich zu der Hebamme: »Es steht mir nicht zu, das zu bestimmen. Netzlin hätte dir sicher gesagt, du sollst es beseitigen. Aber er ist tot, und es hat nur noch seine Mutter Citláli. Wir werden warten, bis sie aufwacht.«
     
     

10
     
    »Ich will das Kind behalten«, erklärte Citláli, nachdem sie aufgewacht war und ich sie getröstet und ermutigt hatte, so daß sie sich den beiden Katastrophen in ihrem Leben gefaßter als in der Nacht stellen konnte. Ich fragte: »Hast du daran gedacht, was dich erwartet? Wenn man davon absieht, daß du dich ständig um das Kind kümmern und gut auf es aufpassen mußt, bis es erwachsen ist, oder sogar bis eine von euch beiden stirbt, wirst du den Spott und die Verachtung der Leute, besonders unserer Priester ertragen müssen. Welches Tonáli ist deinem Kind bestimmt? Es wird ein Leben in erniedrigender Abhängigkeit von seiner Mutter führen, unfähig, die alltäglichsten Dinge zu bewältigen, ganz zu schweigen von allen echten Schwierigkeiten, die möglicherweise auftauchen werden. Es hat praktisch keine Hoffnung, im Leben etwas zu tun, um sich nach dem Tod einen Platz in der glücklichen Welt von Tonatiucan zu verdienen. Kein Tonalpóqui wird sich bereit finden, sein Buch der Zeichen zu befragen, um dem Kind einen glückverheißenden Namen zu geben.«
    »Dann wird der Geburtstagsname sein einziger Name bleiben«, erwiderte sie unbeeindruckt. »Gestern war der Tag der Zwei Winde, nicht wahr? Also wird es Orne Ehécatl heißen. Ich finde, das ist zutreffend. Der Wind hat auch keine Augen.«
    »Orne Ehécatl wird dich niemals sehen, sie wird nie wissen, wie ihre Mutter aussieht. Sie wird

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