Der Sohn des Donnergottes
heiligsten Ort.
»Hätte man denn kein anständigeres Bild von Jesus malen können?« fragte sich Rutja. Falls man ihn umbringen würde, sagte er sich, würde er um eine Kreuzigung wohl herumkommen, denn die Methode war veraltet, aber statt dessen würde man ihn entweder erschießen oder aufhängen. Er versuchte, sich an Stelle des Jesusgemäldes ein Altarbild mit seinem eigenen gehenkten Leib vorzustellen. Rutja, an einem Strick aufgehängt, der Hals einen halben Meter in die Länge gezogen… Die Vorstellung war keinen Deut angenehmer als der Anblick des Bildes vom gekreuzigten Jesus. Grauenerregend, das alles, dachte Rutja und setzte sich auf eine Bank. Es galt, auf der Hut zu sein, damit der Sohn des Donnergottes nicht den falschgläubigen Finnen in die Hände fiel.
Rutja schaute die Seitenwand hinauf. Die Kanzel war mit kunstvollen Schnitzereien verziert, die durch Goldmalereien noch betont wurden. Sie war so weit oben an der Wand angebracht, daß man von dort aus ungehindert die Menschen, die unten saßen, im Auge behalten konnte.
»Dort oben veranstaltet der Oberpfarrer offensichtlich sein Spektakel«, vermutete Rutja. Er dachte gerade daran, auf die Kanzel zu steigen, gab die Absicht aber auf, denn die Seitentür der Kirche öffnete sich, und ein altes, weißhaariges Väterchen mit schwarzem Anzug kam hereingetrippelt. Als er bemerkte, daß ein Besucher in der Kirche war, freute er sich und wollte sich unterhalten. Rutja überlegte, daß es sich durchaus um den Oberpfarrer handeln konnte.
»Ich bin Pfarrer Salonen«, begrüßte ihn der Greis freundlich.
»Rutja Ronkainen«, entgegnete Rutja. »Rutja? Ein ziemlich merkwürdiger Name. Ist das ein Spitzname?« fragte der Pfarrer.
Rutja sagte, eigentlich heiße er Sampsa Ronkainen, aber in religiösen Dingen benutze er gelegentlich den Namen Rutja. Um das Gespräch auf weniger gefährliches Terrain zu lenken, erkundigte er sich, wie viele Menschen gleichzeitig in der Kirche Platz fanden. Salonen zufolge paßten 420 Personen hinein, wenn man die Plätze auf der Empore mitrechnete.
»Und jeden Sonntag kommen so viele Leute hierher?«
»Wenn es wenigstens nur manchmal so wäre!« seufzte der Pfarrer resigniert. »Man kann froh sein, wenn im Durchschnitt zwanzig kommen. Wenn nicht gerade eine Hochzeit oder eine prominente Beerdigung stattfindet, kommt so gut wie niemand, das Wort Gottes zu hören. In den letzten Jahren ist das Volk den Kirchen immer mehr ferngeblieben«, klagte der alte Pfarrer.
»Ach, dann kommen gar nicht mehr viele Leute in so ein großes Haus!« freute sich Rutja.
»Letzten Winter, ich glaube, es war der zweite Sonntag im Februar, kam einmal gar niemand zum Gottesdienst. Nicht ein einziger Mensch! Im Dorf fand zur gleichen Zeit das Winterpferderennen statt. Das war deprimierend! Der Kantor und ich, wir warteten eine halbe Stunde, aber als niemand kam, sprachen wir nur ein kurzes Gebet und gingen. Ich begab mich zum Beten nach Hause, aber sogar der Kantor ging zum Rennen.«
Rutja gefiel, was er da hörte. Der christliche Glaube war also gar nicht mehr so stark. Das konnte man daraus schließen, daß Pferderennen höher angesehen wurden als die Verehrung Jesu.
»Ist euch nie in den Sinn gekommen, zum Pferderennen zu gehen und dort zu predigen?« fragte Rutja.
»Man kann das Wort Gottes doch nicht auf weltlichen Volksversammlungen verkünden. Nein, man muß sich damit begnügen, den Herrn um Hilfe zu bitten, aber das Weltliche ist so tief im finnischen Volk verwurzelt, daß nicht einmal unsere andächtigsten Gebete zu helfen scheinen.«
Rutja hätte am liebsten eingeworfen, daß der Fehler vielleicht bei den Gottesdiensten selbst zu suchen sei. Würde man in diesem Raum zum Beispiel Ägräs oder Pelto-Pekka huldigen, würden die Leute zu Hunderten hineindrängen. Im Mittelschiff könnte man einen Ochsen grillen, in den Nischen würden Tausendliterfässer mit Bier bereitstehen, auf der Empore könnte ein Schamane die Trommel bearbeiten, und das Volk würde im ganzen Saal tanzen wie verrückt, nackt bis auf den Hintern, und die Glücklichsten verfielen in Trance… So etwas würde Ägräs und den anderen finnischen Göttern gefallen.
Dennoch äußerte Rutja seine Überlegungen nicht laut, denn er wußte, daß die Oberpfarrer fremder Religionen von ordentlichen Opferfesten nichts verstanden, und wenn sie etwas davon hörten, sahen sie es als Sünde an und leisteten mit allen Mitteln Widerstand dagegen.
Würde man diesen Kirchenraum in
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