Der Sohn des Donnergottes
Küche, warf einen Blick in den halbleeren Kühlschrank, kehrte dann in den Salon zurück, spazierte durch die Halle und trat auf die Straße hinaus. Er ging die Iso Roobertinkatu in östlicher Richtung entlang, denn er hatte die Absicht, den Dom von Helsinki zu besichtigen, das Hauptquartier der Christen in Finnland. Sampsa hatte erwähnt, daß der Hauptpfarrer der finnischen Christen, der Erzbischof, zwar in Turku wohnte, daß im Dom zu Helsinki aber trotzdem die wichtigsten kirchlichen Veranstaltungen des Landes stattfanden, denn immer, wenn der finnische Staat etwas mit seinem Gott abzumachen hatte, saßen dort die Mitglieder des Ministerrates, der Präsident und die Volksvertreter zusammen.
Der Senatsplatz war leicht zu finden. Schon von weitem sah man den Dom, ein helles Gebäude mit einer grünen Kuppel. Rutja betrat den Platz und blickte in die schwindelerregende Höhe der Kirche hinauf. Oben stand auf Kapitellen eine Reihe von Apostelfiguren. Ob das vielleicht die finnischen Götter waren, fragte sich Rutja. Offensichtlich. Die Haupttreppe führte über die gesamte Breite des Platzes zu den mächtigen Säulen empor. Als Rutja hinaufging, war er ein wenig aufgeregt – was, wenn er in der Kirche Jesus selbst begegnen würde? Was würde er vom Sohn des Donnergottes halten? Würde er seinen Konkurrenten mit der Geißel aus seinem Tempel jagen?
In der Kirche befanden sich allerdings weder Menschen noch Götter. Nicht einmal ein einziger Pfarrer trippelte durch das imposante Bauwerk. Rutja ging eine Weile umher und verschaffte sich einen Eindruck. Da er Jesus nicht antraf, kehrte er wieder ins Sonnenlicht zurück.
Er fragte sich, ob es klug war, nach erfüllter Aufgabe diesen schönen Tempel als Kultstätte für den Donnergott zurückzuerobern. Oder wäre es besser, ihn weiterhin den wenigen Christen zu überlassen, die es dann noch in Finnland gäbe? Nachdem er sich die Sache eine Weile überlegt hatte, beschloß Rutja, daß die Finnen einen völlig neuen Tempel für Ukko Obergott bauen sollten, und zwar einen, der noch größer war als der Dom. Rutja blickte zum Ministerratsgebäude hinüber. Wenn man dort drüben zwei, drei Blocks von jenen flachen, gelben Gebäuden abreißen würde, wäre genug Platz für ein riesiges Gotteshaus vorhanden. Das Gebäude müßte mindestens hundert Meter hoch werden. Auf den Kapitellen oberhalb der Haupttreppe würden zehn Meter hohe Skulpturen von allen finnischen Göttern errichtet werden: in der Mitte Ukko, daneben Ilmarinen, Tapio, Ägräs, Ahti… und unten zwischen den Säulen vereinzelte Darstellungen von Erdgeistern, Wichtelmännchen und Elfen. Auf dem Dach könnte der Donnergott einen glühenden Polarlichterkranz anbringen, der an dunklen Abenden die ganze Stadt erleuchtete. Die Kirchendiener würden Gargantuas genannt werden. Zusammen mit den Kleingeistern könnten sie die kleinen Irrlichter an den Fenstern beaufsichtigen. Der Innenraum würde von inbrünstigem Geheul widerhallen, wenn die zum wahren Glauben bekehrten Finnen tanzten und vor auf Spießen gebräunten Opferochsen jubelten! So sollte es sein!
Aber noch wurde Ukko Obergott in Finnland nicht gehuldigt. Auch der Sohn des Donnergottes stand wie ein gewöhnlicher Tourist auf dem Senatsplatz und besichtigte den Dom. Rutja sah eher aus wie ein schmächtiger Leisetreter als wie ein mächtiger Gott. Er trug einen abgetragenen Wollanzug und staubige Halbschuhe, und die Haare waren brav gescheitelt. Nichts an ihm wies auf seine göttliche Herkunft hin. Auf dem Rückweg vom Senatsplatz betrachtete Rutja sein bescheidenes Spiegelbild in einem Schaufenster. Er seufzte: Er war keine sehr beeindruckende Erscheinung.
Als er in der Scheibe sein Spiegelbild musterte, fiel ihm auf, daß in vielen Schaufenstern Puppen in Menschengröße aufgestellt waren, die neue, saubere Kleider trugen. Rutja schlußfolgerte, daß die Kleidungsstücke zu verkaufen waren, nicht aber die Puppen, denn was hätte ein normaler Bürger schon mit einem solchen lebensgroßen menschlichen Abbild anfangen sollen. Rutja beschloß, sich neue Kleider zu kaufen, die für den Sohn des Donnergottes angemessener waren als die jetzigen. Sollte es die Puppen umsonst dazu geben, wäre das auch nicht schlimm. Vielleicht könnte man die im Antiquitätenladen weiterverkaufen oder jemandem schenken, wenn man sie nicht loswürde.
Wie sich herausstellte, verkaufte das Geschäft die Puppen nicht, sie waren nur zur Präsentation der Kleidungsstücke im
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