Der Sohn des Donnergottes
Tatsächlich war die Tür verschlossen. Rami sperrte sie auf und trat ein.
Er hatte sich von Anelmas Furcht anstecken lassen, es graute ihm davor, das verlassene alte Haus zu durchsuchen, zumal er nicht wußte, ob es tatsächlich verlassen war.
Rami warf einen Blick in die Räume im Erdgeschoß und stellte fest, daß sie leer waren. Vor der Treppe, die ins Obergeschoß führte, blieb er stehen. Er hatte nicht die geringste Lust, hinaufzusteigen. Und wenn er einfach zurückging und sagte, daß sich niemand im Haus befand? Wenn sich da oben tatsächlich jemand versteckt hielt, was zum Teufel ging ihn das an?
Sampsa hörte, daß unten jemand ins Haus gekommen war. Er spähte durch einen schmalen Türspalt nach unten. Am Fuß der Treppe stand Sirkkas »Bruder« und sah ihn direkt an. Plötzlich fiel Sampsa auf, daß er ja gar nicht in seinem eigenen, sondern im Körper des Sohns des Donnergottes steckte. Er wich schnell zurück und schloß die Tür. Doch Rami hatte ihn in seinem Bärenfell gesehen, daran bestand kein Zweifel. Was würde das für Folgen haben?
Als Rami das riesige, behaarte Wesen an der Tür zur Bibliothek erblickte, erschrak er so fürchterlich, daß er nicht einmal auf die Idee kam, davonzulaufen. Der kalte Schweiß stand ihm auf der Stirn, und es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter. Erst als die Gestalt von der Tür verschwand, nahm Rami die Beine unter den Arm. Er stürzte hinaus, warf die Tür zu und flüchtete in das neue Haus hinüber, wo er sich in seinem Schlafzimmer einschloß und sich unter der Bettdecke verkroch. Er glaubte eigentlich nicht an das, was er gesehen hatte, wagte aber auch nicht, es zu leugnen.
Draußen fragten die Frauen, ob im alten Teil jemand gewesen sei und was Rami nur habe, daß er sie nicht hineinlasse.
Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, öffnete Rami die Tür und erklärte ihnen, daß es im alten Haus spuke. Dort lebe eine pelzige Bestie, und er, Rami, nehme den nächsten Bus nach Helsinki. Er war keiner, dem es Vergnügen bereitete, sich an solchen Orten aufzuhalten.
»Du kannst uns Frauen doch hier nicht alleine lassen«, entschied Anelma und nahm Ramis Schuhe in Gewahrsam. Sie schloß sie in der Kammer ein und legte den Schlüssel in ihre Handtasche. So konnte Rami nicht fliehen, denn er konnte sich nichts Schändlicheres vorstellen, als barfuß durch die Hauptstadt zu stapfen.
In Helsinki versuchte Rutja inzwischen, der Steuerprüferin Suvaskorpi zu beweisen, daß er eigentlich kein Mensch war, sondern ein Gott. Die Suvaskorpi glaubte ihm nicht, was kein Wunder war.
»Hören Sie, ich mache diese Arbeit nun seit zehn Jahren, seitdem ich Witwe bin. Ich weiß, was sich die Leute alles einfallen lassen, aber diese Göttergeschichte ist ja wohl der Gipfel der Unverfrorenheit. Außerdem führe ich die Steuerprüfung vollkommen unabhängig davon durch, ob es sich um die Geschäftstätigkeit eines Menschen oder eines Gottes handelt.«
Rutja sagte, er meine sich an Frau Suvaskorpis Mann zu erinnern.
»War Ihr Mann nicht so ein Typ mit einer Kongonase? Auf dem Rücken ein etwa drei Zentimeter breites Muttermal zwischen den Schulterblättern? Er hatte künstliche Zähne und zog das eine Bein ein bißchen nach? Und kniff die Augen immer so zusammen?«
Die Steuerprüferin gab zu, daß die Beschreibung zutreffend war. Worauf wollte Ronkainen mit all dem hinaus?
»Schauen Sie, ich war zufällig in der Unterwelt zur Stelle, als Ihr Mann starb. Dort kommen ständig schrecklich viele Leute hin, unmöglich, sich an jeden einzelnen zu erinnern, aber dieser Suvaskorpi blieb mir im Gedächtnis. Sein Vorname war wohl Oskari, nicht wahr?«
Rutja offenbarte Frau Suvaskorpi, daß ihr verstorbener Ehegatte mit einer Aktenmappe unterm Arm und einer im feurigen Wind flatternden Krawatte den dampfenden Totenfluß hinabgefahren sei. Als er endlich in der Hölle angekommen war, hatte er einen fürchterlichen Lärm gemacht und die sofortige Versetzung in den Himmel verlangt. Na, wenn’s weiter nichts ist, hatten die vielen anderen Bewohner der Hölle gerufen, aber Suvaskorpi hatte erklärt, Jurist zu sein, und seine Forderung damit begründet, daß erzielter Nutzen nicht getilgt werden dürfe. Seiner Ansicht nach war der Tatsache, daß er überraschend an einem Herzinfarkt gestorben war, keine Bedeutung zuzumessen. Ihm stand im Jenseits eine gleichwertige Wohnstätte zu, wie er sie in Finnland zum Zeitpunkt seines Ablebens innehatte. Er rechnete mit einer raschen Versetzung in den
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