Der Sohn des Donnergottes
in der Bibliothek auf, wo er in einem seiner Lieblingsbücher las. Er vermutete, daß die Frauen verschreckt und betrunken waren.
Nachdem sie das Erdgeschoß durchsucht hatten, beschlossen Anelma und Sirkka, die Treppe zur Bibliothek hinaufzusteigen und auch im Obergeschoß überall nachzusehen. Sampsa legte das Buch zur Seite und beschloß, dem Gepolter ein Ende zu machen. Dazu brauchte es nicht mehr als einen geschickten Auftritt, das wußte er bereits. Er schaltete das Licht an und öffnete die Tür. Mehr war nicht nötig.
Als sie oben auf der Treppe die große, imposante, in ein Bärenfell gehüllte Gestalt des Sohns des Donnergottes erblickten, wichen die Frauen vor Angst kreischend zurück, rannten in die Stube und von dort schnurstracks hinaus. Sie hatten es so furchtbar eilig, daß sie nicht einmal die Haustür hinter sich schlossen. Sampsa machte die Tür zu, schaltete das Deckenlicht aus und setzte seine Lektüre fort. Es gefiel ihm, bloß durch seine wilde Erscheinung die Frauen fast zu Tode erschreckt zu haben. Sampsa stellte sich vor, wie sie in diesem Moment beruhigende Tabletten einnahmen und mit viel Rotwein hinunterspülten. Den ganzen nächsten Tag würden ihre Nerven blank liegen. Was soll’s, ihm war das egal.
Den gesamten Vormittag über wurde im neuen Haus verängstigt von dem Ungeheuer gesprochen, das sich im alten Gebäude einquartiert hatte. Rami fragte, ob die Frauen ihm nun endlich glaubten – er jedenfalls habe nicht vor, sich noch eine einzige Stunde länger in dieser Gegend aufzuhalten. Mittlerweile war auch Sirkka dieser Ansicht, aber Anelma flehte die beiden an zu bleiben und drohte ihnen. Sie versprach, sich mit dem Nachbarn in Verbindung zu setzen, mit dem mutigen und starken Nyberg, der sich bestimmt trauen würde, das Haus auf den Kopf zu stellen und den Geist davonzujagen. Bereits um sechs Uhr morgens rief Anelma bei Nyberg an. Der Nachbar wunderte sich ein wenig über den frühen Anruf, versprach aber zu kommen, sobald er die Kühe gefüttert habe. Anelma bat ihn, eine Waffe mitzubringen, zum Beispiel eine Axt oder eine Flinte. Nyberg lachte. Er benötigte bestimmt keine Waffen, um einen spukenden Quälgeist in die Flucht zu schlagen. Dafür hatte er im letzten Krieg zuviel Gespenstisches erlebt, als er Aufseher im Konzentrationslager der Stadt Aunus war.
»Solchen Gespenstern kann man noch mit der Faust Gehorsam beibringen.«
Nyberg dachte bei sich, daß Anelma wahrscheinlich zuviel getrunken hatte und sich alles nur einbildete. Aber warum sollte er nicht vorbeischauen, wenn sie so bat und bettelte? Nachdem er die Stallarbeit erledigt hatte, zog er sich für den Nachbarschaftsbesuch um. Vor dem Haus erwarteten ihn schon zwei hysterische Frauen und ein Jüngling, letzterer mit nackten Füßen. Alle bestätigten einmütig, daß es im alten Hauptgebäude überraschend angefangen habe zu spuken. Nyberg hörte sich das Ganze mit einem Lächeln an, ballte dann die Fäuste und bat Anelma, ihm die Haustür des alten Hauses zu öffnen. Sie entgegnete ihm, daß die Tür über Nacht offengeblieben sei, als sie mit Sirkka die Flucht ergriffen hatte.
Dennoch war die Tür jetzt fest verschlossen. Nyberg fragte, ob die Frauen sie wirklich nicht zugemacht hätten. Anelma und Sirkka schworen, so schnell aus dem Haus gerannt zu sein, daß die Tür garantiert offengeblieben war. Jemand hatte sie hinter ihnen von innen zugesperrt. Es mußte jemand im Haus sein.
Nyberg wurde nachdenklich. Er sagte es den Frauen nicht, aber allmählich hatte er das Gefühl, daß es vielleicht doch nicht so klug war, sich in die Angelegenheiten der Nachbarn einzumischen. Genügte es nicht, daß er schon Sampsa Ronkainens Felder bewirtschaftete und ab und zu ein paar Bäume in dessen Wald fällte? Jetzt hatte er sich in etwas hineinziehen lassen, daß keinerlei Nutzen verhieß, weder ökonomisch noch sonstwie. Im Gegenteil, das Ganze war – wenn nicht sogar furchterregend – so doch zumindest ziemlich peinlich.
Nyberg ballte die Fäuste noch energischer, betrat das Haus und schrie:
»Verflucht, wenn hier einer ist, dann soll er sich zeigen! Hier ist Nyberg, der Nachbar!«
Sampsa war sich über seine Lage im klaren. Er wartete, bis die Frauen verschwunden waren, öffnete dann die Tür der Bibliothek und trat hinaus. Er ließ absichtlich die Treppenstufen knarzen, damit Nyberg ihn bemerkte.
Nyberg stand mit erhobenen Fäusten in der Stube. Sampsa verspürte einen tiefen Abscheu gegenüber diesem
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