Der Sohn des Kreuzfahrers
Weile, bis genügend Wind aufkam, doch als sie erst einmal den Windschatten der Landzunge im Westen verlassen hatten, blähte sich das Segel, und der Drachenbug schnitt erneut durch die dunkelblauen Wellen. Schließlich wurden die Ruder eingeholt und befestigt, und Murdo ging zum Bug und blickte mit einer Erregung zum Horizont hinaus, wie er sie schon seit vielen, vielen Tagen nicht mehr verspürt hatte. Auf dem Weg nach vorne kam ihm Emlyn entgegen, der zum Zelt hinter dem Mast wollte, und in seiner Aufregung bemerkte Murdo laut: »In drei Tagen werden wir in Antiochia sein, und ich werde endlich meinen Vater finden.«
»Das habe ich gehört«, erwiderte Emlyn, blieb stehen und lehnte sich neben Murdo an die Reling. »Ich freue mich für dich. Es war eine lange Reise - eine gute Reise, aber lang.« Er hielt kurz inne und warf Murdo einen freundschaftlichen Blick zu. »Hast du dir schon überlegt, wie du deinen Vater und deine Brüder finden willst?«
»Das wird nicht sonderlich schwer sein«, antwortete Murdo zuversichtlich. »Sie reisen im Gefolge des Herzogs von der Normandie. Ich muß unter den Belagerern nur nach den Normannen suchen, und dort werde ich sie finden.«
VI n den Hügeln, die sich im purpurfarbenen Nebel aus dem Meer W erhoben, war nirgends ein Hafen oder ein Landeplatz zu sehen, geschweige denn eine Stadt, die von hunderttausend Pilgern belagert wurde. Obwohl man Murdo erklärt hatte, Antiochia läge einige Meilen landeinwärts, hoffte er weiterhin, es zumindest von Ferne sehen zu können. Statt dessen jedoch erstreckte sich über den gesamten Horizont eine leere, zerklüftete Felsenküste - keine Stadt, kein Dorf, kein Bauernhof, nichts, was auch nur annähernd auf eine große, antike Stadt in der Nähe hingedeutet hätte. Auch den Hafen von Sankt Simeon hatten sie noch nicht entdeckt, von dem Ronan behauptet hatte, sie würden ihn an der Festlandküste finden.
Murdo verschränkte die Arme vor der Brust und starrte auf die felsige Küste. Irgendwo an diesen kahlen blaßgrauen Felsen und inmitten des staubbedeckten Gestrüpps war König Magnus an Land gegangen. Der beste Hafen, so hatte man Jon berichtet, sei die Stadt mit Namen Sankt Simeon; aber abgesehen von einem winzigen Fischerdorf, an dem sie vor wenigen Stunden vorbeigefahren waren, hatten sie keine Menschenseele gesehen.
Murdo kletterte über seine schlafenden Kameraden Richtung Ruder, um mit Sturli zu sprechen, der gerade Wache hatte. »Wir müssen vergangene Nacht vom Kurs abgekommen sein«, bemerkte Mur-do verärgert. »Hier gibt es keinen Hafen.«
»Ja, ja«, stimmte ihm Sturli zu. »Allerdings glaube ich nicht, daß wir vom Kurs abgekommen sind.«
»Wir sollten den Hafen aber schon längst sehen«, erklärte Murdo und deutete auf die leeren Hügel, die inzwischen rosa im Licht der aufgehenden Sonne schimmerten. »Siehst du da vielleicht irgendwo eine Stadt?«
»Nein«, antwortete Sturli ungerührt. »Aber ich glaube trotzdem nicht, daß wir vom Kurs abgekommen sind.«
»Das müssen wir aber!« beharrte Murdo auf seiner Meinung.
»Das glaube ich nicht«, wiederholte Sturli zum drittenmal und schüttelte den Kopf. »Die Nacht war klar und voller Sterne. Ich weiß, wie man ein Schiff steuert. Vielleicht bist du es, der sich geirrt hat.«
Wütend und enttäuscht zugleich stapfte Murdo davon und ließ sich wieder auf seine Bank fallen. Er lehnte sich an die Reling und beobachtete, wie die langweilige Hügellandschaft immer näher rückte, und sein Geist ging auf Wanderschaft. Er dachte über die Reise nach. Alles in allem betrachtet hatte Emlyn recht: Es war eine gute Reise gewesen. Dennoch war bereits ein Jahr vergangen und noch immer keine Spur von Jerusalem! Es würde mindestens ein weiteres Jahr dauern, bis Murdo Ragna wiedersehen würde.
Dieser Gedanke war derart entmutigend, daß Murdo ihn rasch beiseite schob; statt dessen dachte er voller Vorfreude an den Tag des Triumphs, wenn Herr Ranulf und er den Schlupfwinkel des Bischofs stürmen und ihre Ländereien zurückfordern würden. Er stellte sich vor, wie der diebische alte Kirchenmann auf die Knie fiel und schluchzend um Gnade bettelte. Murdo spürte förmlich das Schwert in seiner Hand, das er dem feisten Bischof an die Kehle drücken wollte.
Diese Vorstellung tröstete ihn lange Zeit, während das Schiff wendete und langsam die Küste hinauffuhr. Einige Stunden später kamen sie an einem kleinen Gebirge vorbei, das bis ins Meer hineinragte, und plötzlich rief
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