Der Sohn des Kreuzfahrers
sie den Speer aus Arles darin ein. Murdo hörte deutlich die Stimmen, die von der Mole zum Schiff herüberriefen. Sie riefen ihm zu, herauszukommen und sich zu zeigen. Auch hörte Murdo das Klappern von Hufen, und er wußte, daß er seine Verfolger nicht mehr länger würde hinhalten können. Also verknotete er die letzte Kordel, legte die entblößte heilige Lanze vorsichtig aufs Deck, atmete tief durch und stand auf, um sich seinem Schicksal zu stellen.
Auf der Mole hatte sich inzwischen eine beachtliche Menschenmenge versammelt. Die Ritter, welche die Verfolgung begonnen hatten, standen ebenfalls dort. Sie hatten die Schwerter gezogen und starrten Murdo feindselig an. Bei seinem Erscheinen waren die Rufe zunächst verstummt; nun jedoch begann der Lärm von neuem.
Ruhig und gelassen hob Murdo die Hände - um Ruhe zu gebieten, und um zu zeigen, daß er unbewaffnet war. »Bitte!« rief er. »Im Namen unseres Herrn Jesus Christus, ich bitte euch, laßt mich sprechen!«
»Ruhe!« brüllte der vorderste der Ritter. Als sich daraufhin Schweigen über die Menge senkte, fragte er: »Was hast du zu sagen, Dieb?«
»Wer ist Euer Herr?« fragte Murdo. Er wußte es, doch er wollte, daß auch die Umstehenden es erfuhren.
»Wir sind Graf Balduins Männer«, antwortete der Edelmann. »Wir verlangen, daß du zurückgibst, was rechtmäßig ihm gehört.«
»Was ist es, das ich von Graf Balduin gestohlen haben soll?«
Der Edelmann ließ seinen Blick über die Menge schweifen, bevor er antwortete. Offenbar gefiel ihm ganz und gar nicht, in welche Richtung sich das Gespräch entwickelte. Plötzlich riß er die Hand hoch, deutete auf Murdo und schrie: »Er hat die heilige Lanze gestohlen!«
Ein erstauntes Raunen ging durch die am Ufer versammelte Menge. Die Lanze Christi! Hier? Wie konnte das sein?
»Ich habe gar nichts von Euch gestohlen«, erwiderte Murdo unverblümt. »Was ich habe, habe ich mir nicht von Euch, sondern von den Seldschuken geholt.«
»Lügner!« schrie der Ritter. »Ergreift ihn!«
Angestachelt von den leidenschaftlichen Anklagen des Ritters und begierig darauf, selbst ein Teil dieses so interessanten Streits zu werden, drängte die Menge vorwärts in Richtung Schiff. Murdo bückte sich rasch, griff nach dem Speer und hob ihn über den Kopf. »Halt!« rief er.
Verwirrt ob des plötzlichen Auftauchens der vermeintlichen Reliquie blieb die Menge stehen.
»Bleibt, wo ihr seid«, warnte Murdo. »Wenn auch nur einer von euch einen Schritt weitergeht, werde ich die Lanze ins Meer werfen.«
»Tu's doch!« forderte ihn der Ritter heraus. »Wir werden sie schon wiederfinden.«
»Vielleicht«, gestand ihm Murdo zu. »Aber vielleicht auch nicht. Sollen wir Euren Glauben auf die Probe stellen?«
Der Ritter funkelte ihn wütend an. »Ich werde dich aufschlitzen wie ein Schwein und dich den Hunden zum Fraß vorwerfen, wenn du die Lanze fallenläßt.«
Erneut ging ein Raunen durch die Menge, und einige nahmen all ihren Mut zusammen und traten einen Schritt vor. Murdo nahm eine Hand vom Speer, so daß er sich auf einer Seite abrupt Richtung Meer senkte. Entsetzt wich die Menge zurück.
Murdo legte die Stirn in Falten. Die Sache lief nicht, wie er geplant hatte. Mehr noch: Der Speer war schwer, und sein Arm wurde allmählich müde. Er wußte nicht, wie lange er die Waffe noch am ausgestreckten Arm würde halten können. Schon bald würde er sie wieder herunternehmen müssen, und was dann?
»Hör zu«, sagte der Edelmann. »Wenn du mir die Lanze sofort übergibst, werde ich dich von dem Diebstahl freisprechen.«
»Ich habe nichts gestohlen; ich.«, begann Murdo, doch kam er nicht mehr dazu, seinen Satz zu beenden. Er hörte ein lautes Platschen, und als er sich umdrehte, sah er zwei Männer, die aus dem Hafenbecken über die Reling kletterten. »Gorm! Hilfe!« schrie er, als die beiden Männer sich auf ihn stürzten.
Murdo stieß mit dem stumpfen Ende des Speers nach dem Gesicht des ersten Mannes, der sich jedoch geschickt unter den Stoß duckte. Dann stach er nach dem zweiten, dem es irgendwie gelang, das mit Seide umwickelte Eisen zu packen, woraufhin er versuchte, es Murdo aus der Hand zu reißen. Murdo ließ jedoch nicht los, und mit vereinten Kräften zogen die beiden Männer ihn zu sich heran. Sie hoben ihn über die Reling, doch noch immer hielt er die falsche Lanze fest.
Die Menge rief den beiden Männern zu, Murdo über Bord zu werfen, und jene, die dem Langschiff am nächsten standen, versuchten, ihn zu
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