Der Sohn des Kreuzfahrers
ihre Vorgänger schworen sie Alexios bereitwillig die Treue und versprachen, alles Land und alle Reliquien der kaiserlichen Herrschaft zu überantworten, die sie auf der Kreuzfahrt erobern würden.
Daß der Eid so rasch unterschrieben wurde, war in erster Linie Graf Stephan zu verdanken, der aufgrund seiner Selbstlosigkeit und Frömmigkeit hohes Ansehen unter den Römern genoß. Nachdem der Kaiser erst einmal herausgefunden hatte, wie hoch die Pilger den Grafen schätzten, verschwendete er keine Zeit und betraute den jungen Fürsten mit der Aufgabe, Raimund dazu zu bewegen, sich ebenfalls der kaiserlichen Autorität zu unterwerfen.
Der Graf von Blois hatte kaum die Feder wieder abgelegt, mit der er den Eid unterschrieben hatte, als der Kaiser bereits verkündete, wie sehr es ihn freue, daß diese Formalität so rasch erledigt worden sei und daß man nun dazu übergehen würde, Proviant unter den hungrigen Truppen der Neuankömmlinge zu verteilen; anschließend würde man sie dann ohne weitere Verzögerung nach Pe-lekanon übersetzen, wo sie auf die anderen Pilger treffen würden. Erleichtert und dankbar verlieh Herzog Robert seinem Wunsch Ausdruck, die Pilgerfahrt so rasch wie möglich wiederaufzunehmen, woraufhin der Kaiser bemerkte, daß der Graf von Toulouse sich unglücklicherweise nicht dem Kreuzzug anschließen könne.
Die lateinischen Fürsten blickten einander verwundert an. Graf Raimunds Heer war das größte und bestausgerüstetste der Kreuzfahrerheere, und sie zählten auf seine Führerschaft. »Aber, mein Herr und Kaiser, warum sollte Raimund zurückbleiben?« verlangte Stephan respektvoll zu wissen.
»Wir können nur vermuten, daß euer Freund beschlossen hat, den Kreuzzug aufzugeben«, antwortete Alexios.
»Wirklich?« fragte Robert Graf von Flandern.
»Zumindest scheint es so.«
»Verzeiht mir, mein Herr und Kaiser«, sagte der Herzog von der Normandie, »aber es fällt mir schwer, dies zu glauben. Es ist weithin bekannt, wie sehr der Graf von Toulouse auf diese Pilgerfahrt brennt. Tatsächlich steht seine Armee sogar in eben diesem Augenblick zum Abmarsch bereit. Es muß eine andere Erklärung geben. Ohne Zweifel ist irgend jemandem ein Fehler unterlaufen.«
»Niemandem ist ein Fehler unterlaufen«, versicherte ihm der Kaiser. »Das einzige, was ihn am Aufbruch hindert, ist der Eid, den ihr soeben unterzeichnet habt. Graf Raimund befindet sich nunmehr seit neun Tagen in Konstantinopel; jeden Tag haben Wir ihm das Dokument vorlegen lassen, und jeden Tag hat er sich geweigert, es zu unterzeichnen.« Alexios' Tonfall wurde hart. »Da er nicht ins Heilige Land Weiterreisen kann, solange das Dokument nicht unterzeichnet ist, können Wir daraus nur schließen, daß er beschlossen hat, den Kreuzzug zu verlassen.«
Stephan runzelte besorgt die Stirn und nickte verständnisvoll. »Ich glaube, ich verstehe allmählich«, sagte er. »Vielleicht würde der Kaiser mir etwas Zeit gewähren, um Raimund umzustimmen. Mit Eurer Zustimmung, mein Herr und Kaiser, werde ich die Angelegenheit mit ihm besprechen.«
»Selbstverständlich. Sprich mit ihm«, sagte Alexios im Tonfall eines Mannes, der nicht mehr weiter wußte. »Wir beten zu Gott, daß du Erfolg haben wirst, und zwar rasch. Am Tag nach Ostern wird die Flotte damit beginnen, eure Truppen über den Bosporus zu transportieren, und bevor auch nur einem Soldaten die Überfahrt gestattet werden wird, muß der Eid unterzeichnet sein.«
»Aber Ostern ist bereits morgen!« stöhnte Stephan.
»Das stimmt«, bestätigte der Kaiser. »Wie ich sehe, beginnst du tatsächlich zu verstehen.«
»Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen würdet, mein Herr und Kaiser, dann werde ich ohne Verzögerung zu ihm eilen, um mit ihm zu sprechen.«
Bei Sonnenaufgang des zehnten Tages nach Raimunds Ankunft in Konstantinopel durchbrach das Läuten der Kirchenglocken die frühmorgendliche Stille und kündigte den Beginn der Osterfeierlichkeiten an. Die westlichen Edelleute und ihre Familien - denn alle außer Stephan hatten ihre Gemahlinnen und Kinder mitgebracht - waren eingeladen worden, die Ostermesse gemeinsam mit dem Kaiser und der Kaiserin auf der Galerie der Hagia Sophia zu feiern. Dort, inmitten der mit Gold beschlagenen Ikonen der heiligen Sophia und den prächtigen Mosaiken, die den auferstandenen Christus zeigten, konnten die Besucher die Pracht erahnen, die zu bewahren sie geschworen hatten. Nach dem Gottesdienst führte man die Pilger zurück in ihre trostlosen
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