Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
was sein wird.‹ Schaffst du das?«
»Ja, Meister«, antwortete Awin tapfer.
Er nahm die erste Beere in den Mund. Sie schmeckte säuerlich. Er schluckte, trank und wiederholte die Worte, die Curru ihm vorgesagt hatte.
»Gut mein Junge, gleich noch einmal«, lobte Curru.
So freundlich war er seit Jahren nicht mehr zu dir , warnte seine innere Stimme, als Awin die zweite Beere geschluckt hatte. Sein Ziehvater hatte die erste Rabenbeere genommen. Awin nahm die dritte und die vierte Beere, sein Meister die zweite. Awin stellte die Schale zur Seite, Curru ebenfalls. Er hat nur zwei genommen! , rief die innere Stimme. Awin schluckte und schwieg. Jetzt konnte er es nicht mehr ändern. Er fühlte sich seltsam entspannt und gleichzeitig schwer. »Und was nun, Meister?«, fragte er leise.
»Jetzt werden wir schweigen und warten. Denke an das, was du sehen willst. An nichts anderes. Bitte die Weberin, dir die Augen zu öffnen, doch bitte sie nur in Gedanken, nicht in Worten. Worte kommen aus deinem Mund und damit aus einem Teil deines Körpers, und den willst du hinter dir lassen. Du wirst merken, wenn die Reise beginnt. Und bitte Tengwil um Führung!« Dann nahm Curru die Fackel und drückte sie am Boden aus. Dunkelheit umfing sie. Awin lehnte den Kopf in den Nacken. Über ihm glitzerten die Sterne. Er versuchte, der unheilvoll roten Mondsichel keine Beachtung zu schenken. Öffne mir die Augen, Tengwil , wiederholte er in Gedanken wieder und wieder. Der Feind - er versuchte, an den Feind zu denken, an den Lichtstein und an Eri, weil der Yaman ihn darum gebeten hatte. Er schloss die Augen und lauschte auf Currus regelmäßigen Atem, dann auf leise Schritte außerhalb des Kreises. Je ruhiger er selbst wurde, desto besser schien sein Gehör die Geräusche der Nacht wahrzunehmen. Nach einer Weile hörte er die halblaute Unterhaltung der Hakul am Lagerfeuer, noch ein wenig später war ihm, als könne er die Wellen des großen Stroms hören und das Knarren der Dattelpalmen, die sich in einem leichten Wind wiegten. Der Wind schmeckte nach Sand. Es würde einen Sturm geben. Dann verstummte die Außenwelt.
Er vernahm ein leises Rauschen wie von Wasser, aber es schien aus seinem Inneren zu kommen. Er spürte jede Faser seines Körpers, seine ineinanderverschränkten Beine, seine Hände, die auf den Knien ruhten. Schauer liefen ihm über die Haut. Sein Herzschlag wurde lauter und lauter, bis er schließlich so laut donnerte, dass alles andere verstummte. Dann setzte sein Herz aus. Er fühlte, wie ihm der Boden unter den Füßen weggezogen wurde, und er fiel. Er hörte und sah nichts mehr, und ein ungeheures Glücksgefühl durchströmte ihn. Dann stürzte er in einen endlosen Abgrund aus Stille und Schwärze. Er fiel und fiel. Das Glück schwand. Unter ihm wurde es heller. Ein bläuliches Licht raste auf ihn zu und umfing ihn. Geblendet schloss er die Augen.
Als er sie wieder öffnete, sah er unter sich eine weite Landschaft. Ein karges Gebirge, das sich in der Ferne verlor. Da war eine Stadt, kleiner als Serkesch, und dort geschah etwas - eine wütende Menge trieb einen Mann durch ein Tor, bewarf ihn mit Steinen. Der Mann hatte das Gesicht verhüllt. Er floh über einen steilen Hang hinab in eine endlose Ebene. In der Ferne glitzerte ein Fluss. Es war keine Landschaft, die er kannte. Wo war er? Staub brannte in seinen Augen, und er musste blinzeln.
Als er die Augen wieder aufschlug, stand er am Rand eines Meeres. Es war dunkelgrau, fast schwarz. Am steinigen Ufer suchte eine junge Frau den Boden ab, hob Steine und Muscheln auf und ließ sie wieder fallen. Merege, dachte er. Die Frau blickte auf. Nein, das war nicht Merege, es war Senis, nur viel, viel jünger. Sie sah ihn prüfend an. »Du bist weit von deiner Heimat entfernt, Hakul«, sagte sie. Sie sagte es, als sei es völlig selbstverständlich, dass sie sich hier begegneten. »Wo bin ich?«, fragte Awin. »Was ist das für ein Ufer?«
»Das Schlangenmeer, junger Seher, doch bist du hier zur falschen Zeit und am falschen Ort.«
Awin nickte. Hier würde er nicht finden, was er suchte. »Aber wie komme ich wieder von hier fort?«, fragte er.
»Schließ die Augen.«
»Und dann?«
Aber sie antwortete nicht. Awin spürte Wind auf seiner Haut. Er öffnete die Augen vorsichtig. Er war hoch in der Luft. Unter ihm flog eine fremde Landschaft dahin, ungeheuer üppig, mit tausenden von Bächen, Seen, Teichen und Tümpeln, die das Licht der Sonne spiegelten. Es gab einen Fluss,
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