Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Stein fest. Unter ihm lag ein nachtschwarzer kleiner Talkessel, eigentlich nur eine Einbuchtung im Fels. Jemand bewegte sich dort. Er konnte nicht viel erkennen. Dann hörte er zwei Pferde herangaloppieren. Maskenhelme schimmerten im Sternenlicht. Das waren Ebu und Ech! Sie stürmten auf dem Rücken ihrer Pferde in das Tal hinein. Awin schrie ihnen eine Warnung zu.
Das Bild sprang mit einem einzelnen Donnerschlag, der seinen Kopf dröhnen ließ. Ein schreckliches Stöhnen erklang, ein Pferd musste verletzt worden sein. Jemand schrie, und Waffen klirrten. Plötzlich war einer der Reiter wieder am Eingang des Tals. Eine helle Stimme rief, und Awin sah einen der Yamanssöhne, der auf ein Mädchen zukroch, das sich hinter einem Felsen
verborgen hielt. Er schien verletzt zu sein. Ich glaube, er ist tot , sagte eine Stimme von irgendwoher. Awin ließ den Talgrund nicht aus den Augen, doch wieder schien das Bild durch die Zeit zu springen, denn plötzlich sah er einen Schatten, der sich über seinen verletzten Sgerbruder beugte. Awin wollte schreien, aber er brachte keinen Laut heraus. Vier gewaltige Rappen stürmten Schulter an Schulter auf ihn zu. Das Tal war fort. Er stand in einer Ebene, Wind zerrte an ihm, und seine Augen tränten, weil Isparra, die Zerstörerin, Staub über die Ebene peitschte. Die vier schnaubenden Rösser kamen rasend schnell näher. Ihre Hufe donnerten lauter als der Sturm. Er konnte den Wagenlenker nicht sehen. Er riss den Mund auf, um zu schreien, aber Isparra raubte ihm den Schrei von den Lippen. Er schloss die Augen.
Ein Löwe brüllte. Er sah einen Jungen, kaum zehn Jahre alt, der aus einem Teich zwischen roten Felsen Wasser schöpfte. Auf der anderen Seite des Wassers duckten sich zwei Löwen zum Sprung. »Du musst zurück«, sagte eine Stimme zu ihm. Er drehte sich um. Er war wieder am Meer. Ein grauer Tag ohne Sonne. Zwielicht. Wasser spülte um seine Füße. Die junge Frau, die Senis war, saß auf einem schwarzen Felsen, hielt die angezogenen Beine mit den Armen umschlungen und sah ihn nachdenklich an. Ich fühle keinen Herzschlag mehr , sagte die unbekannte Stimme jetzt. Awin beachtete sie nicht. Er hätte sie gern verscheucht wie eine lästige Fliege, aber sein Arm war ungeheuer schwer, und er konnte ihn nicht heben.
»Zurück? Aber ich bin doch gerade erst hierhergekommen«, rief er der Frau auf dem Stein zu, »und ich muss noch so vieles erfahren.« Das Sprechen fiel ihm schwer. Er hatte das Gefühl, zu ersticken. Da war wieder dieser doppelte Donnerschlag. Awin glaubte, er würde ihm die Schädeldecke sprengen, dabei war er viel leiser als die vorherigen. Senis schien dieser Lärm
nichts auszumachen. Sie sah ihn mit ihren fast weißen Augen an. »Du hast mehr als genug gesehen, und die Zeit wird knapp.«
Ich habe dir gesagt, dass es gefährlich ist. Das hast du, alter Freund. Ich wollte ihn nicht mitnehmen. Jetzt waren es schon zwei Stimmen. Ja, es war mein Fehler , sagte die zweite Stimme. Sie verwirrten ihn, aber sie wurden leiser. Dann waren sie ganz verschwunden. Sie spielten keine Rolle, hier, am rauschenden Meer. Das Schlangenmeer - er hatte viel darüber gehört. Ob wirklich riesige Seeschlangen darin lebten? Es würde sich lohnen, das herauszufinden. Er bemerkte, dass die Frau ihn besorgt beobachtete. »Ich habe den Heolin noch nicht gefunden …«, begann er.
Senis stand plötzlich neben ihm, fasste ihn sanft an der Schulter und drehte ihn um. Da war ein Kreis aus tiefschwarzer Nacht, in dessen Mitte ein kleiner Funke glomm. Der Rand des Kreises schmolz in gleißendem Licht. »Edhil kommt, und er wird dich verbrennen, wenn du dich nicht beeilst.«
Awin konnte sich nicht bewegen. »Aber wie …«
»Behalte das Licht im Auge«, sagte Senis und gab ihm einen sanften Stoß. Er fiel vornüber, taumelte, lag plötzlich auf dem Rücken. Die Luft roch nach Sand. Es donnerte, dann noch einmal. Awin fühlte ein Brennen in der Lunge. Es ist schade um Awin , sagte eine neue, traurige Stimme. Der doppelte Donner verebbte zu einem Herzschlag, noch einer, wieder einer. Sein Schädel dröhnte. Blut rauschte in seinem Kopf, sein Herz pochte, ein Echo der Donnerschläge, die er noch eben gehört hatte. Awin riss die Augen auf und sog gierig Luft ein.
»Aber - er ist gar nicht tot!«, rief eine helle Stimme. Mabak stand über ihn gebeugt und sah ihm besorgt ins Gesicht.
Awin rollte sich auf die Seite und übergab sich. Über ihm wölbte sich ein rötlich grauer Morgenhimmel.
»Ich
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