Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
wohnt.«
Aber nicht für alles Silber und Eisen in der Welt hätte Awin diese unheimliche Mauer berührt.
Er schrie noch einmal laut nach Eri und Curru, aber es gab keine Antwort.
»Diese Mauer ist nicht ohne Grund zwischen uns errichtet worden, junger Seher«, behauptete Merege. »Irgendjemand will uns trennen.«
» Trennen «, flüsterte es. Awin fuhr herum. Aber da war nur die Wand. Ob die Stimme aus einem der Gänge gekommen war? Merege schien sie dieses Mal nicht vernommen zu haben. Sie stand vor der neuen Wand und schlug mit den Fingerknöcheln dagegen. Es klang hart und trocken wie Stein.
»Vielleicht können wir sie mit den Schwertern …«, begann Awin, aber Merege schüttelte den Kopf. »Waffen sind hier nutzlos. Ein Zauber hat dies errichtet, und kein Zauber, den ich kenne, könnte es durchdringen.«
»Dann müssen wir sie eben umgehen. Wenn Curru und Eri klug sind, werden sie das Gleiche versuchen. Irgendeiner dieser Gänge wird zu einer Kammer führen, von der aus wir auf die andere Seite gelangen.«
»Hier gibt es sehr viele Gänge«, gab die junge Kariwa zu bedenken, aber da sie auch schlecht bleiben konnten, wo sie waren, versuchten sie ihr Glück. Sie nahmen den Durchgang, der der Mauer am nächsten war. Er brachte sie zu einer langen Treppe, die nach unten führte.
»Auch Eri hat von einer Treppe gesprochen, ein gutes Zeichen«, meinte Awin.
Die Kariwa zuckte mit den Schultern. »Ich habe Zweifel, dass es so einfach ist.«
»Und ich schlage vor, dass wir dicht zusammenbleiben«, erwiderte Awin und stieg die Treppe hinab.
Es waren viele Stufen, und sie führten in seltsamen Windungen immer tiefer hinab. Zweimal stießen sie auf leere Kammern. Doch diese hatten keine anderen Ausgänge, also gingen sie weiter. Dann erreichten sie eine achteckige Kammer mit sechs Türen. Alle öffneten sich zu Gängen oder weiteren Treppen, die mal nach oben, mal nach unten führten.
»Ein Gang sieht so gut oder schlecht aus wie der andere«, meinte Awin enttäuscht. »Spürst du einen Luftzug? Oder hörst du etwas, das uns weiterbringt, Merege?«
Das Mädchen schüttelte den Kopf. Es war nur das leise, beständige Rieseln von Sand zu hören.
»Wohin immer wir uns wenden, wir müssen uns den Weg gut einprägen, denn ich will mich hier nicht verirren«, meinte Awin besorgt.
» Verirren «, flüsterte der Sand.
Awin erstarrte. »Hast du das gehört?«
»Nur ein Echo«, meinte Merege, aber er sah ihr an, dass auch sie verunsichert war.
»Vielleicht sollten wir zurückgehen und einen anderen Gang versuchen«, schlug Awin vor.
»Ich glaube nicht, dass wir den selben Weg zurück nehmen können«, erwiderte Merege ruhig, »denn die Treppe, die uns herführte, ist verschwunden.«
Awin fuhr herum. Da war Durchgang neben Durchgang, aber Merege hatte Recht - der, durch denn sie gekommen waren, war fort. Awin betastete entsetzt die Wand. »Aber er war doch eben noch hier!«, rief er.
»Und jetzt ist er es nicht mehr«, stellte die Kariwa nüchtern fest.
»Aber dann sind wir verloren!«
Mereges Augen verengten sich. »Gibst du immer so schnell auf, Hakul? Es ist möglich, dass wir verloren sind, vielleicht werden wir aber auch gefunden. Wir müssen weiter!«
»Und wohin? Weißt du das auch, da du so klug bist?«
Merege zuckte mit den Schultern. »Ich denke, es ist beinahe unerheblich, welchen Weg wir wählen. Offensichtlich kann jemand unsere Schritte lenken. Also werden wir am Ende dort ankommen, wo dieser Jemand uns haben will.«
»Aber wir sind doch keine Schafe, die sich von Hirten treiben lassen!«, erwiderte Awin. Er konnte nicht fassen, wie ruhig die Kariwa blieb.
»Mag sein, vielleicht hält uns derjenige für Schafe«, entgegnete Merege, »aber dann wird er bald erfahren, dass diese Schafe scharfe Schwerter besitzen.«
Awin fand es beinahe beruhigend, dass er einen Anflug von Zorn in ihrer Stimme hörte. »Glaubst du, dass es der Mann oder die Frau sind, die uns hier quälen?«
Wieder zuckte Merege nur mit den Schultern. »Vielleicht weder noch. Vielleicht ist es einer der alten Maghai, von denen die Menschen dieser Gegend erzählen.«
»Ein Zauberer?«, fragte Awin. Er dachte nach. Das wäre eine Erklärung für vieles. Aber wozu der ganze Aufwand?
»Was immer er vorhat, er will es wohl beschleunigen«, sagte Merege und deutete auf eine der Wände. Dort verwandelte sich einer der Durchgänge gerade in ein Stück Mauer. Awin sah mit offenem Mund zu. Jetzt standen ihnen nur noch drei Wege
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