Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
auch gehört. Die Schritte hatten die Treppe offenbar hinter sich gelassen und kamen jetzt rasch näher. Awins Hand wanderte wie von selbst zu seinem Sichelschwert, und auch die anderen griffen nach ihren Waffen. Das Echo der Schritte stürmte heran, jemand atmete schwer. Dann trat er durch die Tür. Awin zuckte einen halben Schritt zurück. Das war ein Hüne von Mann, mit langem blondem Haar, vor Anstrengung rotem Gesicht und wilden Augen. Er trug eine knielange Lederrüstung, und in der Faust hielt er eine große Axt. Er warf ihnen einen wütenden Blick zu, schnaubte verächtlich, und noch bevor sie etwas sagen oder tun konnten, war er durch die nächste Pforte verschwunden. Erstaunt schauten sie einander an. Das Echo der schweren Schritte klang ihnen in den Ohren und wurde schnell leiser. Der Hüne schien zu rennen.
»Was war das?«, fragte Awin verblüfft.
»Vor allem, wer war das?«, meinte Curru.
Ein Windhauch zog durch die Kammer. Das Licht über Mereges Hand flackerte.
»Ich glaube, da kommt noch jemand«, flüsterte Awin.
»Ich höre nichts«, meinte Curru stirnrunzelnd. »Nur das Echo von diesem unhöflichen Riesen. Er ist schnell.«
»Ich spüre, dass da jemand kommt«, wiederholte Awin, und er war sich ganz sicher.
Merege nickte. »Er hat Recht, aber ich höre auch keine Schritte.«
Plötzlich erschien eine hochgewachsene Frau in der Kammer. Auch sie lief schnell wie der Hüne, doch schien sie eher zu schweben als zu stapfen. Sie war in vielem das genaue Gegenteil des Mannes. Ihr Haar war schwarz gelockt, ihr Kleid flammend rot. Sie lief barfuß. Sie hielt kurz inne, blickte zu ihnen herüber, und ihr Gesichtsausdruck wandelte sich zu einer Mischung aus Verachtung und Zorn. Curru öffnete den Mund, um sie zu begrüßen, aber da huschte sie durch eine weitere Pforte davon. Wieder wehte ein Windhauch durch die Kammer. Awin fröstelte. Die Frau war verschwunden. Kein Echo, keine Schritte. Aber dennoch vermeinte Awin zu spüren, dass sie sich schnell entfernte. Das Geschehene kam ihm unwirklich vor, fast wie einer seiner Träume oder Gesichte.
»Gehören die zu dem Knaben?«, fragte Eri.
»Wer weiß, vielleicht seine Eltern. Der Knabe scheint dann eher nach der Mutter geraten zu sein«, meinte Curru geistesabwesend.
»Seltsame Menschen«, flüsterte Eri. »Wenn es denn überhaupt Menschen sind.«
Curru lächelte herablassend. »Was sollten sie denn sonst sein? Nicht sehr höflich zwar, aber uns wohl nicht feindlich gesonnen. Wir sollten der Frau folgen.«
»Wir könnten auch dem Mann folgen«, widersprach Awin.
»Du kannst machen, was du willst, mein Junge, wir werden dieser Frau folgen«, erklärte Curru entschieden.
»Wir?«, fragte Awin spitz.
»Curru hat Recht«, meinte Eri. »Eine Frau ist doch nicht so gefährlich wie ein Mann. Schon gar nicht wie dieser Riese mit seiner Axt.«
»Das kann täuschen«, meinte Awin, der daran denken musste, auf welche Weise er in der Schlacht gerettet worden war. Das Gesicht des sterbenden Akkesch stand ihm wieder vor Augen.
Der Funke in Mereges Hand erlosch, aber sie bemerkten kaum einen Unterschied, denn das gelbliche Licht, das von den Wänden stammte, war hell genug.
Eri lief zu der Tür, durch die die Frau verschwunden war. Curru hinkte ihm hinterher.
»Es ist eine Treppe, sie führt nach unten«, meldete der Yamanssohn.
Awin sah auf einmal etwas Merkwürdiges: Auf dem Boden zeigte sich eine schwache Linie aus Sand, kaum höher und breiter als ein Handrücken. Sie kam von einer Wand, lief quer durch den Raum und verschwand in der gegenüberliegenden Mauer.
»Was ist das?«, fragte Merege leise.
»Vorsicht, Meister Curru«, rief Awin.
Sein Ziehvater und Eri waren auf der anderen Seite dieser Linie. Ein leises Knirschen erklang.
»Was …?« Currus Satz erstarb ihm auf den Lippen, denn plötzlich sprang die sandige Linie nach oben. Es war nicht anders zu beschreiben - die Linie schoss in die Höhe, bohrte sich in die Decke und zog eine Mauer aus Sand mit sich hoch. Awin prallte entsetzt zurück. Er hörte einen gedämpften Schrei. Er musste von der anderen Seite der Wand kommen.
»Meister Curru! Eri!«, schrie er.
Seine Stimme versickerte im Sand. Es gab nicht einmal ein Echo. Merege trat nach vorne, legte ihre Hand auf die neue Mauer. »Darin steckt eine starke Kraft.«
»Aber das ist Sand!«, rief Awin.
Merege schüttelte den Kopf. »Das war Sand. Sie ist hart wie Stein. Befühle sie. Du kannst die Macht spüren, die in ihr
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