Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Stück entgegen. Vermutlich wollte er nicht, dass die Frauen hörten, was der Mann zu berichten hatte. Aber da hatte er sich verrechnet, denn als Sigil sah, was da vor sich ging, gab sie ihrem Tier kurz entschlossen die Fersen und folgte ihnen einfach. Der Yaman versuchte Sigil aufzuhalten. Ihr Pferd scheute und brach zur Seite aus. Aber die Frau Elwahs war eine geschickte Reiterin und hatte es rasch wieder im Griff.
»Mewe, was hast du gesehen?«, rief Sigil dem Jäger laut zu.
Der schüttelte den Kopf. »Nichts habe ich gesehen. Denn wie der Yaman verlangte, hielt ich am Eingang des Tales an.«
»Wenn ihr es nicht wissen wollt, ich kann nicht länger warten«, rief Sigil. Erneut gab sie ihrem Braunen die Fersen und galoppierte davon.
»Halt!«, schrie der Yaman. »Mewe, halte sie auf!«
Mewe versuchte, Sigil den Weg abzuschneiden, aber sie schlug einen Haken, durch den sie hinter ihm vorbeischlüpfte, und versetzte dabei Mewes Rappen einen Schlag mit der Reitgerte, dass er sich aufbäumte und der Jäger alle Mühe hatte, sich im Sattel zu halten. Plötzlich löste sich eine zweite Reiterin aus der Schar. Es war Hengil, Calwahs Frau. Sie brach mitten durch die Reihe der Krieger. Die Pferde erschraken und sprangen zur Seite, und die Männer fluchten und versuchten, sie wieder zu beruhigen. Yaman Aryak brüllte noch einmal ein »Halt« hinter den beiden Frauen her, aber sie dachten nicht daran, auf ihn zu hören.
»Und ihr? Worauf wartet ihr, ihr Krieger der Hakul, ihnen nach! Oder wollt ihr sie in ihr Verderben reiten lassen?«
Die Männer fluchten, dann setzten sie den beiden Frauen nach. Es war nicht mehr weit bis zum Eingang des Grastals. Elwah war der beste Schafzüchter der Sippe, aber wie sich nun zeigte, besaß seine Familie auch gute Pferde. Wie der Wind flogen die beiden Frauen den langen Hang zum Eingang des Tals hinauf. Die Pferde der Männer hatten schwerer zu tragen. Awin legte sich weit vornüber, um seinen Falben zu entlasten, und bald war er unter den ersten Verfolgern. Ganz vorne aber war Mewe. Sein Rappe wirkte frisch, und schnell holte er Hengil ein. Er rief ihr ein paar zornige Worte zu, die Awin nicht verstehen konnte, aber sie schienen zu wirken, denn die junge Frau zügelte ihr Tier.
Das Gras trat zurück, und sie erreichten die weite Felsplatte, die vor dem Eingang des Tales lag. Der Hufschlag der galoppierenden Pferde hallte von den steilen Wänden wider. Wenn dort im Tal ein Feind auf sie wartete, würde er sie hören, lange bevor er sie sah. Awin biss die Zähne zusammen und jagte weiter. Sigil hatte das Ende der Felsplatte erreicht, und Mewe war dicht hinter ihr. Er brüllte ihr etwas zu, aber Elwahs Frau hetzte ihr Pferd weiter. Sie verschwanden hinter einer Felsbiegung. Dann erklang das durchdringende Wiehern eines Pferdes und ein vielstimmiges Blöken. Awin bog um die Ecke - und zog scharf am Zügel. Vor ihm drehte sich Sigils Brauner in schnellen Kreisen inmitten einer Herde Schafe, die sich über den Grund des Tales verstreut hatte, und Mewe hatte alle Hände voll zu tun, seinen Rappen zu bändigen. Von den Hirten war nichts zu sehen. Awin konnte die Verzweiflung in Sigils Gesicht erkennen. Natürlich wusste sie schon seit dem Mittag, dass etwas Furchtbares geschehen sein musste, aber jetzt, da sie mit eigenen Augen sah, dass der größte Schatz ihres Mannes, seine Tiere, unbewacht und verloren durch das Tal streunte, sah sie ihre schlimmsten Befürchtungen wohl bestätigt. Sie war aschfahl im Gesicht. Es
dauerte nicht sehr lange, und die anderen Hakul trafen ein. Der Yaman wartete, bis auch der dicke Bale angekommen war. Die Sonne war schon hinter den westlichen Hängen verschwunden, und das Tal versank allmählich im Dämmerlicht. Der Yaman verzichtete darauf, Elwahs Frau zur Rede zu stellen, und beriet sich leise mit Curru. Awin lenkte sein Pferd näher heran. Er war der Schüler des Sehers und hatte daher das Recht, dieser Beratung beizuwohnen.
»Die Felsen schweigen. Die Geier fliegen nicht. Der Weg vor uns versinkt in Dunkelheit. Ich vermag nicht zu sehen, was vor uns liegt«, erklärte Curru.
»So sollten wir uns für den Kampf rüsten?«, fragte der Yaman.
»Es kann nicht schaden, denn eines kann ich doch sagen - ich sehe Blut am Ende unseres Pfades.«
Der Yaman dachte kurz nach, dann nickte er. Awin verzog keine Miene, auch wenn er sich über die Blindheit des Alten wunderte. Es gab vielerlei Zeichen: Die verstreut weidenden Tiere verrieten doch, dass keine
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