Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
verstehe einfach nicht, was der Fremde an diesem See wollte.«
Awin hatte immer noch das Bild der zerbrochenen Steinplatte vor Augen. Es war wichtig, das fühlte er. Aber was um der Götter willen hatte es zu bedeuten? War es eines der Gesichte gewesen, von denen erfahrene Seher manchmal berichteten? Oder eine Erinnerung? Glatt wie ein Fisch trieb ihm ein Gedanke durch den Kopf, den er einfach nicht zu fassen bekam. Es passte zu einem anderen Gedanken, den er schon vorher gehabt hatte, aber er verstand den Zusammenhang nicht. Dann hörte er sich selbst sagen: »Und wenn der See gar nicht sein Ziel war?«
Curru schüttelte seufzend den Kopf. »Seht ihr, wie viel Ärger
ich mit diesem Jungen habe? Glaubst du etwa, dass dieser kaltblütige Mörder unserer Verwandten sich bloß verlaufen hat?«
Awin wurde rot und senkte den Kopf. Das hatte er nun wirklich nicht behaupten wollen. Mewe sprang plötzlich auf. »Etys’ Grab!«, rief er.
Der Yaman sah ihn groß an: »Das Grab des Stammvaters? Was ist damit?«
»Er kam nicht hierher, um Elwah zu töten. Habt ihr die Seitentäler abgesucht?«
Hier im hinteren Bereich des Grastals zweigten einige schmale Täler und Schluchten ab. Einige waren nur wenige Schritte tief, andere zogen sich lang und gewunden weit durch den Fels.
Der Yaman schüttelte den Kopf. »Es ist schon zu dunkel, gerade in den Schluchten. Und sagtest du nicht selbst, dass wir jetzt keine Spuren mehr finden werden? Außerdem führt keine dieser Schluchten aus den Bergen hinaus. Sollte er wirklich noch hier sein, kann er uns auf diesem Weg sicher nicht entkommen.«
»Fackeln!«, rief Mewe. »Schnell! Und dann auf die Pferde.«
»Alle?«, fragte Aryak, offensichtlich befremdet.
Mewe starrte ihn kurz an. »Nein, besser nur wir vier. Ich fürchte das Schlimmste.«
Wenig später ritten sie durch die nördlichste der Drei Schwestern. Das waren drei Schluchten, die sich wie drei gekrümmte Finger nebeneinander in den Berg gruben. Mewe ritt voran. Und obwohl es zwischen den senkrecht stehenden Felsen schon finster war und das Licht der Fackeln kaum ausreichte, um den Weg zu erkennen, ritten sie im scharfen Trab. Mewe hatte sich über sein Ziel ausgeschwiegen, aber als er genau auf diese eine Schlucht, die Jüngste Schwester, zuhielt, begriff Awin, was er
befürchtete. Der Yaman ritt vor ihm, aber er konnte ihm noch von hinten ansehen, wie besorgt er war. Auch Curru schien verstanden zu haben, was hier möglicherweise geschehen war. Und Awin teilte ihre Sorgen. Das, was er befürchtete, würde alle offenen Fragen beantworten. Gleichzeitig weigerte er sich zu glauben, dass es wirklich geschehen war. Es war einfach undenkbar, dass ein Mensch so tief sinken und diesen Frevel begehen würde. Mewe hielt sein Pferd scharf an. Sie hatten ihr Ziel erreicht, eine glatte Felswand am Ende des Tales. Vor ihr lag eine zerbrochene Steintafel, über die, im Licht der Fackeln kaum zu erkennen, eine Eidechse huschte. Awin bekam weiche Knie, als er das Bild wiedererkannte. Die anderen sprangen von den Pferden. Stumm starrten sie auf das Loch, das dort in der Wand klaffte. Etys’ Grab war geöffnet worden.
»Ich habe es nicht verstanden«, sagte Curru schließlich.
»Was meinst du, alter Freund?«, fragte der Yaman tonlos.
»Das Pferd. Als ich sagte, es sei in eine der Schluchten gelaufen. Es war eine Nachricht der Schicksalsweberin, aber ich habe sie nicht verstanden.«
»Aber du hast es gesagt. Es war ein Hinweis«, stellte der Yaman fest.
»Wir müssen nachsehen«, sagte Mewe schließlich. Er packte seine Fackel fester und trat an das Grab heran.
»Warte«, rief der Yaman. »Es ist heiliger Boden.«
Mewe blieb stehen. »Curru?«, fragte er, und die Verunsicherung war seiner Stimme deutlich anzuhören.
Der Seher hatte sich noch nicht gerührt. Jetzt nickte er nachdenklich. »Ja, es ist heiliger Boden, aber er wurde bereits entweiht. Wir können das Grab betreten. Unser Ahn wird uns vergeben.«
Awin starrte in das finstere Loch, das wie eine offene Wunde im Fels klaffte. Es hieß, die Ahnen freuten sich, wenn ihre Nachfahren
sie besuchten, und so führte der Weg des Klans immer wieder an den Gräbern der Verstorbenen vorbei. Aber es gab Ausnahmen. Die Gräber der Weisen und der großen Anführer wurden gemieden. Denn sie wachten über die ihren und durften nicht gestört werden. Und keine Wacht war wichtiger als die des Großen Etys.
Aber da war noch etwas anderes. Als Awin mit den anderen das Grab betrat,
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