Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
Nichts war fest, der Boden kochte. Wenn du einmal zu uns in den Norden kommst, an den Rand der Welt, dann kannst du dort sehen, wie die Welt aussah, als sie nur erträumt und nicht vollendet war, denn bei uns ist sie noch in Bewegung. Rot und heiß bricht sie aus dem Stein hervor und ruft nach einem Schmied, der sie in die endgültige Form bringt.«
»Aber … aber Brond schläft«, stotterte Awin, als die Alte verstummte.
Sie lächelte. »Ja, der Hüter des Feuers und Gott der Schmiede schläft, seit der Kriegsgott ihn mit jener Blume des Schlafs betäubte. Weißt du aber auch, dass die Hüter, als sie die Welt vollendeten, viele Helfer hatten, alle von Edhil erschaffen?«, fragte die Alte weiter.
Awin nickte. Das wusste jedes Kind. Er fragte sich, worauf sie hinauswollte.
»Ich sehe, du kennst diese Geschichten. Und du weißt von den niederen Göttern, den Alfholden, die die schwere Arbeit vollendeten und aus Edhils schönem Traum diese Welt schufen, und sicher hast du auch von den Alfskrols gehört, den Ausgeburten
von Edhils Albträumen, die alles zerstören und verderben wollen. Aber weißt du auch von den Riesen, den stärksten Helfern der Hüter, unsterblich wie die Götter?«
Die letzten Worte waren so leise gesprochen, dass Awin sie kaum verstand, und es klang seltsam verbittert. »Ich habe von ihnen gehört«, erwiderte er, als Senis verstummte und gedankenverloren auf das rote Wasser schaute.
»Hast du dich je gefragt, junger Hakul, was aus den Alfholden, Riesen und Alfskrols wurde, als die Welt vollendet war?«, fuhr sie fort.
»Nein, ehrwürdige Senis«, antwortete Awin. Gefragt hatte er sich das nie, aber es gab doch viele Geschichten darüber. Die Götter hatten ihre festen Plätze, ihre Haine, Quellen und Berge, von wo aus sie ihren Teil der Schöpfung überwachten und die Menschen beschützten.
»Als die Menschen kamen«, fuhr Senis fort, »zogen sie sich zurück. Einige blieben hier, in der Erde, den Bäumen, den Flüssen, und wachten über diese Orte. Sie schlugen Wurzeln, wenn du so willst, wurden eins mit der Erde, dem Wasser, dem Wind. Sie schlummern, und es ist nicht leicht, sie zu wecken. Nicht so aber die Alfskrols oder Daimonen, wie sie auch genannt werden. Für sie war kein Platz mehr auf der Erde, und die Hüter verbannten sie an den nördlichen Rand der Welt, hinter einen mächtigen Riegel aus ewigem Eis. Und die, die sich der Verbannung widersetzten, wurden vom Großen Jäger Boga getötet. Doch die anderen warten nun, warten darauf, dass sie noch einmal gerufen werden. Wenn du einmal zu uns kommst, junger Hakul, dann kannst du sie hören, wie sie an dem großen Tor rütteln, das ihnen die Rückkehr in unsere Welt verwehrt.«
Awin schauderte es. Ein Tor, an dem die Daimonen rüttelten? »Und die Riesen?«, fragte Awin, denn er hatte das Gefühl, dass es das war, worauf es Senis ankam.
»Die Riesen, mein Junge, wurden nicht verbannt, aber sie gingen schließlich freiwillig ins ewige Eis. Und die Hallen, die sie dort bauten, sind die letzten Werke, die sie erschufen. Dort sitzen sie nun untätig am Feuer und träumen von alter Kraft und Tat. Ein Schatten ihrer selbst sind sie, müde von den Erinnerungen. Sie schlafen meist, denn in ihren Träumen sind sie noch machtvoll. Nur Tengwil schläft nie.«
»Die Schicksalsweberin … ist eine Riesin?«, fragte Awin ungläubig.
»Natürlich ist sie das, junger Hakul. Die Götter nahmen zu viel Anteil an dieser Welt und empfanden zu viel Liebe für die Menschen. Deshalb blieben sie auch, als die Arbeit vollbracht war. Ihnen konnte der Schicksalsfaden nicht anvertraut werden. Die Herzen der Riesen dagegen sind aus Eis. Ihre Gedanken gelten nur dem eigenen Werk. Sie kümmert nicht, was die Menschen tun. Auch Tengwil ist es gleichgültig, welcher Art der Faden ist, den sie zu ihrem Teppich verwebt. Aber selbst sie, die niemals Schlafende, hat Träume, junger Hakul, und manche sagen, sie träumt, was sie weben wird. Ich fand, du solltest das wissen. Und jetzt gib mir deine Hand!«
Awin war so verblüfft über diese bestimmte Aufforderung, dass er ihr ohne nachzudenken folgte. Senis fasste sie mit der Rechten, drehte und betrachtete sie und murmelte Worte, die Awin nicht verstand. Dann strich sie sanft mit der Linken darüber. Plötzlich spürte er einen leichten Stich. Erschrocken zog er die Hand zurück. Senis sah ihn mit ihren beinahe weißen Augen freundlich an und sagte: »Ich denke, das wird genügen.«
Und bevor Awin verstand oder
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