Der Sohn des Sehers 01 - Nomade
atmete tief durch. Curru war weitergeeilt. Awin stolperte zum Wasser und warf sich kaltes Wasser ins Gesicht, bis der Albdruck nachließ. Er sah sich um. Überall am Ufer waren Hakul damit beschäftigt, ihre Pferde zu versorgen. Es war ein friedliches Bild. Auch Marwi war auf den Beinen. Es schien ihm besser zu gehen. Awin wusch sich, kümmerte sich um seinen Schecken und frühstückte trockenes Fleisch. Und die ganze Zeit dachte er über das nach, was er geträumt hatte. Es hatte sich angefühlt, als geschähe es wirklich. Aber was hatte Senis’ Anwesenheit zu bedeuten? Sie war ihm wie ein Fremdkörper erschienen. Und wieso war er noch einmal dort gewesen und hatte sich selbst beobachtet? Plötzlich wusste er, dass er mit ihr darüber sprechen musste. Er lief zu ihrem Wagen, aber der stand verlassen am Ufer. Die beiden Frauen waren nirgends zu entdecken.
»Was ist mit dir, du siehst aus, als sei dir ein Geist begegnet«, fragte Tuwin, der im Schatten einer Dattelpalme saß und sein Zaumzeug prüfte.
»Wo ist Curru - ich meine, Meister Curru?«, fragte Awin,
statt eine Antwort zu geben. Er hatte seinen Ziehvater nicht mehr gesehen, seit dieser ihn geweckt hatte.
»Er ist oben in den Felsen und hält Ausschau nach Zeichen.«
»In den Felsen?«, fragte Awin verwundert.
»Ja, er sagt, die alte Kariwa würde alle Zeichen verderben und verfälschen. Er sagt, sie lasse die Wahrheit welken«, erklärte der Schmied und grinste. Offenbar belustigte ihn die Abneigung, die Curru gegen die Kariwa gefasst hatte.
»Dann sollte ich ihn suchen«, meinte Awin. Aber das war gar nicht nötig, denn Curru kam gerade mit langen Schritten in ihr Lager zurück. An seinem Gesichtsausdruck sah Awin, dass er Erfolg gehabt hatte. Aber welche Zeichen er auch immer erspäht hatte, er musste erst von dem Traum erfahren. Es war ein überwältigend starkes Bild gewesen, und Awin, der Träumen sonst lange nicht so viel Bedeutung beimaß wie sein Lehrer, war sicher, dass ihm dieses Mal die Große Weberin etwas hatte mitteilen wollen.
»Meister Curru!«, rief er und lief ihm entgegen.
»Jetzt nicht, mein Junge, jetzt nicht. Ich habe gute Neuigkeiten«, wehrte ihn Curru ab und marschierte geradewegs zu Aryak. Er bat ihn, die Männer zusammenzurufen. Awin versuchte noch einmal, ihn anzusprechen, aber Curru schob ihn zur Seite und stieg auf einen Stein, um etwas zu verkünden. Die Männer versammelten sich bis auf den jungen Mabak, Bales Enkel, der auf einem der Felsen stand und nach Auryds Männern Ausschau hielt.
»Ihr Krieger«, begann Curru, »lange schon sitzen wir im Sattel, und viele Tage folgten wir dem Feind, ohne dass ich auch nur ein Zeichen entdeckt hätte, das uns etwas über den Weg des Fremden offenbarte. Auch schien es doch, als hätten sich alle Winde der Wüste gegen uns verschworen - Skefer, der unsere Gedanken lähmte, Nyet, der die Spuren verwehte, Isparra, die
die Vögel vom Himmel vertrieb, und dann Seweti, die uns verspottete, denn sie tanzte auf unseren Spuren, aber verwischte sie nicht. Doch endlich schweigen die Winde. Also ging ich heute Morgen dort hinauf auf einen der Felsen und bat Tengwil um ein Zeichen - und die Weberin erhörte mich!«
Die Hakul hingen gespannt an den Lippen des Sehers. Es wäre gut, ein ermutigendes Zeichen zu empfangen, nachdem in den letzten Tagen so vieles so schlecht gelaufen war. Awin sah die Hoffnung in ihren Augen. Der alte Seher fuhr fort. »Seht nach oben, ihr Männer, was seht ihr?«
Alle blickten nach oben, und es war Mewe, der rief: »Zwei Bussarde.«
»So ist es, ihr Krieger. Seht ihr, wie sie über dem Gewässer kreisen, nebeneinander in Einigkeit? Und wie sie immer an derselben Stelle stets nach Südosten ausbrechen, bevor sie den Kreis schließen?«
Mehrere aufgeregte Rufe belegten, dass die Männer sahen, was der Seher meinte.
»Diese Vögel weisen uns den Weg, und sie bestätigen meinen Traum. Der Feind nimmt die Eisenstraße, östlich des Glutrückens.«
»Und er geht nach Serkesch?«, fragte Tuwin.
»Die Bussarde sagen, dass dies sein Vorhaben ist, aber sie sagen auch, dass er Zweifel an seinem Weg hat. Seht ihr, wie sie den Abstand zueinander verringern und vergrößern, wie erst der eine, dann der andere auf der inneren Bahn kreist? Selbst mein Schüler Awin weiß, dass dies für Zweifel steht und für eine Entscheidung, die überdacht wird. Der Feind hat sich noch nicht endgültig entschieden, nach Serkesch zu gehen, aber uns hat die Weberin diesen Weg bestimmt.
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