Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
Kammer. Dort war alles ruhig. Er hörte Merege ganz regelmäßig neben sich atmen, während sein eigenes Herz wild klopfte. War sie wirklich so kaltblütig? Er nahm seinen Dolch und begann vorsichtig, die Naht aufzutrennen.
Plötzlich fühlte er Mereges Hand auf der Schulter. Sie schob ihn zur Seite. Ein leises Geräusch verriet ihm, dass sie ihr Schwert gezogen hatte, die Waffe, die Welas Vater Tuwin, den Schmied, vor Neid hatte erblassen lassen. Er hörte leise, schnelle Schnitte, dann war die lederne Haut einen Spalt weit geöffnet. Nebenan lachten die Männer laut und rau. Das Gelächter übertönte das Reißen des Tuchs. Das Gespräch ging weiter. Awin vermeinte, Curru herauszuhören, aber es sprachen immer mehrere Männer gleichzeitig. Awin zählte die Stimmen. Es waren wenigstens sechs. Bis jetzt gab es keinerlei Anzeichen, dass sie jemand bemerkt hatte. Merege wollte hineinklettern, doch Awin hielt sie auf. Er fand, das sei seine Sache. Er stieg vorsichtig durch die schmale Öffnung. Die Kammer war in sanftes Dämmerlicht getaucht. Awin hörte ruhige Atemzüge. Er sah eine schlanke Gestalt auf einem niedrigen, fellgepolsterten Gestell ruhen. Es war Eri, und er schlief im goldenen Schimmer des Heolins. Der Stab war zum Greifen nah - und unbewacht.
Vorsichtig tastete sich Awin voran. Er betrachtete den Schlafenden. Eris linker Arm lag in einer Schlinge. Er schlief unruhig. Vielleicht sandte ihm die Schicksalsweberin einen Traum. Awin schickte ein Stoßgebet zu den Göttern, damit Tengwil den Knaben nicht weckte. Merege tauchte geräuschlos neben ihm auf. Sie atmete ruhig und regelmäßig. Da war der Heolinstab, neben dem Bett eingepflanzt in den Boden. Es sah einfach aus. Awin stockte. Merege musste ein Leben nehmen, um sie
hier fortzubringen. Und dafür stand ihr außer seinem eigenen nur eines zur Verfügung - das von Eri. Während er die Hand nach dem Heolin ausstreckte, überlegte er fieberhaft noch einmal, ob es nicht eine andere Möglichkeit gäbe. Konnten sie nicht einfach den Stab nehmen, verhüllen und zu Fuß flüchten? Vielleicht würde bis zum Morgen niemand bemerken, dass der Lichtstein fort war. Awin berührte den Stab. Vorsichtig, ganz vorsichtig zog er ihn aus der Erde. Nur ein leises Schmatzen verriet, dass der weiche Boden ihn losgelassen hatte. Nebenan wurde wieder rau gelacht. Awin konnte dennoch förmlich spüren, wie Merege hinter ihm ihre Kraft sammelte. Dann bemerkte er, dass Eri nicht mehr atmete. Er blickte dem jungen Krieger ins Gesicht. Dieser hatte die Augen geöffnet und erwiderte den Blick mit einer Wut, die Awin erbleichen ließ. Für einen kurzen Augenblick schien die Welt den Atem anzuhalten.
»Zu den Waffen, Hakul!«, brüllte Eri dann, rollte zur Seite, stöhnte, weil er dabei seinen gebrochenen Arm belasten musste, und packte sein Schwert.
Awin sprang zurück. Merege umfasste seinen Unterarm mit eisernem Griff. »Nicht Eri«, flüsterte Awin. Die Tücher im Durchgang wurden zur Seite gerissen. Zwei Krieger stürmten herein. Dahinter waren noch weitere. Merege streckte ihnen mit schneller Geste ihre offene Hand entgegen, was die beiden zu verunsichern schien. Sie zogen ihre Sichelschwerter, drangen aber nicht weiter vor. Curru war dicht hinter ihnen. »Tötet sie!«, schrie er.
»Gul-sen suoli!« , hauchte Merege. »Nawiar skerik!« Awin spürte einen kalten Schauer über seinen Rücken laufen. Einer der beiden Krieger erstarrte in der Bewegung. Das Schwert glitt ihm aus den Fingern, die Augen quollen aus den Höhlen. Der andere sah es und blieb entsetzt stehen. Curru gab ihm einen Stoß. »So töte sie doch!«, schrie er schrill.
»Gul-sen suoli!« , flüsterte Merege noch einmal. Awin spürte Schmerz durch seinen Arm kriechen. »Nawiar skerik!«
Da war sie wieder, die Eiseskälte, die Awin in die Brust kroch, so so wie es am Glutrücken geschehen war. Der Krieger brüllte. Awin hörte einen wütenden Schrei in seinem Rücken, doch er konnte sich nicht umdrehen. »Gul-sen suoli!« Das Gebrüll des Kriegers gellte in Awins Ohren. Die Welt löste sich in roten Schleiern auf. »Nawiar skerik!« Die Schleier packten Awin und zerrissen ihn in tausend Stücke. Dann war alles schwarz. Und still.
Die Welt kam zurück, brüllend und mit schwarzer Nacht. Blut rauschte in Awins Ohren, seine Lungen brannten, und kalter Schmerz durchzuckte alle Glieder. Die Dunkelheit bewegte sich. Awin spürte, dass ihm etwas aus den Fingern glitt. Der Heolinstab, dachte er. Zauberei! ,
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