Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger
in Falten. Uos Sichel, das Sternzeichen, das als schwarze Linie ihr Jochbein schmückte, schien lebendig zu werden. »Was soll ich damit?«
»Es wäre ein Ehrenzeichen für dein Zelt, in deiner Heimat. Aber du kannst damit machen, was du willst.«
Sie erhob sich und strich ihr schwarzes Gewand glatt. »Die Kariwa wohnen nicht in Zelten, Awin, und im Augenblick wäre diese Lanze wohl nur ein Gewicht, das ich nicht gebrauchen kann. Pflanzt sie hier auf, unter den Gefallenen. Vielleicht nehme ich sie mit, wenn wir auf dem Rückweg wieder hier vorüberkommen sollten.«
Harmin gefiel der Vorschlag ganz offensichtlich nicht, aber er gab keine Widerworte. Sie rammten die Lanze in den Boden, gleich neben Gerwi, der inzwischen sein Leben ausgehaucht hatte. Limdin und Dare kehrten zurück. Sie hatten insgesamt achtzehn Leichen gezählt.
»Seid ihr sicher?«, fragte Harmin nach.
»Wir haben sie zweimal gezählt, Großvater, einmal auf dem Hin-, einmal auf dem Rückweg. Es sind achtzehn.«
»Das bedeutet, dass uns einer entkommen ist«, stellte Awin ruhig fest.
»Wir müssen ihn verfolgen«, meinte Tuge düster.
»Habt ihr eine Spur?«, fragte Awin die beiden Enkel Harmins.
Doch die hatten sie nicht. Die meisten Pferde des Steine-Sgers waren kopflos davongestürmt. Es schien unmöglich, die Spur jenes einen zu finden, das einen Reiter trug.
»Es wird keinen Unterschied machen«, stieß Harmin hervor. »Er wird verletzt sein. Vielleicht haben wir ihn übersehen, weil er mehr tot als lebendig war. Er kann nicht weit kommen.«
Awin schüttelte den Kopf und sagte: »Wir können ihm nicht nachjagen, auch wenn wir das vielleicht bereuen werden. Er wird vielleicht andere Hakul herbeirufen, die Rechenschaft von uns fordern. Und vielleicht halten sie sich nicht mit der Frage auf, wer diesen Streit begonnen hat. Doch wir müssen weiter und werden später sehen, was daraus folgt.«
Sie hatten ein halbes Dutzend Pferde von Gerwis Sger eingefangen. Unter denen wählten sie zwei aus, denen sie die Beute aufluden, die die Männer nicht auf dem eigenen Pferd mitführen konnten, dann zogen sie weiter. Die Leichen ließen sie unbestattet zurück, so wie es bei besiegten Feinden Brauch war. Awin war sich sicher, dass der eine oder andere seiner Sgerbrüder ein Gebet sprach, damit Uo, der Totengott,
die Gefallenen abfing und in seine graue Stadt führte. So würden sie ihnen nicht später auf Marekets immergrünen Weiden ihren Platz an der Seite ihres Gottes streitig machen können. Er selbst hingegen bat die Weberin Tengwil, das Unheil von ihnen abzuwenden, dass die Flucht jenes einen Hakul heraufbeschwören konnte.
Mahuk Raschtar
ALS SIE AUFBRACHEN, sammelten sich schon die ersten Geier über ihren Köpfen. Sie schienen nur darauf zu warten, dass die Lebenden die Toten verließen. Awin führte den Sger ungefähr in die Richtung, die Gerwi ihm gewiesen hatte. Er nahm nicht an, dass der Yaman sich die Mühe gemacht hatte, ihn noch zu belügen, da er ihn doch schon für so gut wie tot gehalten hatte. Die Punkte, die sie vorhin gesehen hatten, entpuppten sich als weitere Geier, die nun über sie hinweg zum Schauplatz des Kampfes zogen. Niemand sagte etwas. Bald sahen sie die Umrisse der beiden stumpfen Türme, von denen der Yaman gesprochen hatte. Sie waren aus Lehmziegeln, kreisrund und ebenso breit wie hoch. Einige Krähen saßen auf dem Mauerkranz und beäugten die Reiter, die näher kamen.
»Was sind das für Bauwerke?«, fragte Wela.
Awin erklärte es ihr.
»Sie überlassen ihre eigenen Toten den Aasfressern? Das ist widerlich«, urteilte Harmin mit Abscheu.
»Und was haben wir mit Menek und den anderen vom Steine-Sger gemacht, Schmied?«, fragte Wela mit viel Bitterkeit in der Stimme.
»Das waren Feinde und Verräter. Das ist etwas anderes«, gab Harmin zurück.
Wela verstummte, und Awin dachte, dass ihr der Tod Meneks wohl näherging, als sie zugeben wollte. Er führte den Sger in einem Bogen um die Türme herum. Die Krähen auf den Mauern krächzten, und ein paar stiegen auf, um sie zu verfolgen.
»Fliegt dorthin, wo schon eure Brüder, die Geier, sind, da liegt genug Fleisch für euch!«, rief Tuge, aber die schwarzen Vögel hörten nicht auf ihn.
Limdin und Dare ritten wieder voraus. Sie fanden den Pfad, von dem Gerwi gesprochen hatte. Er schien wirklich in Richtung der Sonnenberge zu führen. Je weiter sie die Totentürme hinter sich ließen, desto besser wurde die Stimmung der Männer. Awin hörte, wie sie
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