Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger

Titel: Der Sohn des Sehers 02 - Lichtträger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Torsten Fink
Vom Netzwerk:
einen kleinen Bronzebecher. »Es ist die Traumflechte. Zermahlen, mit anderen Kräutern. Aufgekocht.«
    Awin schnupperte an dem Becher. Er hätte die Flechte fast vergessen. Das Gebräu roch furchtbar. »Hast du die Mischung bestimmt, oder war es Yeku?«, fragte er zweifelnd.
    »Yeku will uns umbringen. Ich habe es gemischt. Ich werde davon trinken. Es öffnet den Geist.«
    »Ihr kennt die Reise des Geistes?«, fragte Awin überrascht.
    »Keine Reise. Offener Geist. Offen für die Zeichen der Nacht.« Mahuk nahm einen Schluck aus dem Becher. Dann verließ er den Kreis. Awin zog den Kreis noch einmal nach, denn er wusste nicht, ob der Schutz Bestand hatte, wenn jemand diesen Kreis betrat und wieder verließ, wie Mahuk es gerade getan hatte. Und wieder murmelte er die überlieferten Worte, die verhindern sollten, dass sein Geist über den Rand der Welt abgetrieben wurde: »Dies ist der Erdkreis, mein Geist wird ihn nicht verlassen.« Dann setzte er sich, entzündete das kleine Feuer, das er vorbereitet hatte, und atmete tief durch. Er versuchte, all die Gedanken und Sorgen, die ihn beschäftigten, abzuschütteln. Er musste Senis finden. Und vielleicht erlaubte Tengwil ihm auch einen Blick auf die Pläne seiner Feinde. Ob er Curru treffen würde? Vielleicht vollführte sein ehemaliger Meister gerade in diesem Augenblick das gleiche Ritual. Awin atmete tiefer. Er rief sich die Worte ins Gedächtnis, die er gelernt hatte, und flüsterte: »Dein Reich betrete ich, deine Gnade erbitte ich, deine Hilfe suche ich, Tengwil, allsehende Schicksalsweberin. Öffne mir die Augen. Zeige mir, was ist. Zeige mir, was war. Zeige mir, was sein wird.« Er wiederholte diese Worte wieder und wieder und wartete auf die Anzeichen, dass sein Geist die Reise antreten würde - den Donner seines Herzschlages, den er beim ersten Mal verspürt hatte, das
Glücksgefühl, das ihn vollständig durchflutet hatte. Aber es kam nicht. Er nahm einen Schluck aus dem Becher, versuchte, seine Gedanken auf Senis zu richten, und wiederholte die rituellen Worte. Wartete. Nahm noch einen Schluck. Atmete tiefer.
    »Er ist blind«, sagte eine geisterhafte Stimme. »Und taub«, ergänzte eine zweite. Jemand lachte. Awin öffnete die Augen. Er war in einem Wald, ähnlich dem, in dem sie in der vorigen Nacht gelagert hatten. Doch ragten mächtige Felsen hinter den Bäumen steil auf, und zwischen fahlweißen Birken standen schwarze Ulmen in einem unwirklichen Licht. Ein starker Windstoß wirbelte blasses Laub auf. Es roch nach Moder und Tod. »Sieht er?«, fragte die Stimme. Awin drehte sich um. Vier verhüllte Gestalten standen zwischen den Bäumen. »Er sieht«, sagte eine helle Stimme. Eine Kapuze wurde zurückgeschlagen, und ein schwarzhaariger Knabe starrte Awin feindselig an.
    »Skefer«, sagte Awin schwach. Das Ritual hatte ihn zu den Winden Slahans geführt?
    »Er kennt uns noch«, höhnte eine zweite, weit kräftigere Stimme.
    »Nyet?«, fragte Awin.
    Eine der Gestalten lachte und warf ihren Umhang ab. Es war Seweti in ihren blauen Schleiern, die mehr enthüllten als verdeckten. Awin starrte sie an - bis sie sich plötzlich in Luft auflöste.
    »Wo ist sie hin?«, fragte er vorsichtig.
    »Der Mensch fragt, wo sie hin ist«, schnaubte Nyet.
    »Meine Schwester tut ihre Pflicht«, erklärte Skefer mit Bosheit in der Stimme.
    Awin begann zu schwitzen. Die vierte Gestalt schwieg und stand völlig bewegungslos. Sie war von einer Aura erstickender Stille umgeben, nichts in ihrer Nähe bewegte sich. Selbst das fallende Laub schien in der Luft zu verharren. Er sah zwei
feindselige Augen unter der Kapuze leuchten. Awin erkannte, dass es sich um Dauwe handelte, den Wind der Stille, den Täuscher, der die Reisenden mit falschen Bildern ins Verderben lockte. Er musste auf der Hut sein. Ein Wind fehlte. »Wo ist deine andere Schwester, Skefer, wo ist Isparra?«, fragte er vorsichtig.
    »Er fragt nach ihr?«, brüllte Nyet, packte eine Birke in jäher Wut und zerbrach sie.
    Skefer stand plötzlich dicht vor Awin. Er sah ihn mit seinen schwarzen Augen so durchdringend an, dass es schmerzte. »Isparra ist fort, vergessen. Eine leere Hülle. Du kannst sie klagen hören, an der Löwenquelle in Uos Mund. Deine Schuld, Mensch. Du hast sie verführt, sich gegen unsere Herrin zu stellen.«
    »Slahan hat sie getötet?«, fragte Awin unsicher. Er versuchte, den Blick abzuwenden, aber es gelang ihm nicht. Die schwarzen Augen brannten wie Feuer in seinem Kopf.
    »Wie dumm er ist!«,

Weitere Kostenlose Bücher