Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
schattenhaften Greises. Seweti war nun ebenfalls aufgestanden. Wie bei ihrer letzten Begegnung war sie in ein Gewand gehüllt, das mehr offenbarte als verhüllte, aber die blauen Schleier wehten über einem knochigen Gerippe, und als sie lächelte, erschien es Awin wie das Grinsen eines Totenschädels.
»Lass ihn, Nyet, mein Bruder, ein anderer wird sich seiner annehmen. Siehst du ihn nicht?« Sie streckte ihre knochige Hand aus und deutete auf irgendetwas hinter Awin. Er drehte
sich rasch um. Da war ein Schatten, aber bevor er Näheres erkennen konnte, rief jemand seinen Namen, und plötzlich fand er sich im Schatten eines Gebäudes wieder. Es glich dem Turm, den er an der Fähre in Karno gesehen hatte, aber war doch anders. Dann trat eine Frau aus der Dunkelheit. Sie trug einen zerrissenen Mantel, war gebeugt, faltig, das lange Haar war stumpf und unansehnlich, die Augen lagen tief in den Höhlen. Awin musste zweimal hinsehen. »Isparra?«, fragte er ungläubig.
Die Alfskrole sah ihn durchdringend an. »Hast du meine Geschwister gesehen, Seher?«, fragte sie. Awin nickte stumm. »Dann kennst du nun ihr und mein Geheimnis.«
»Ich verstehe es nicht«, sagte Awin verwirrt.
»Wirklich nicht? Ist es denn so schwer? Unsere Macht ist groß, aber nicht mehr unendlich. Und wenn wir sie nutzen, verzehrt sie uns. Wir schwinden, Sterblicher! Jeden Tag, den wir unsere Kräfte nutzen, werden wir schwächer und schwächer, denn Uo hat unsere Verbindung zur göttlichen Macht durchtrennt. Und auf dieser Ebene wird unsere Schwäche offenbar.«
Jetzt begriff Awin. »Und wenn das Skroltor geöffnet wird?«, fragte er.
Isparra blickte zu Boden. »Dann haben wir Uo vielleicht überlistet, denn dann ist die Grenze zwischen der Welt der Götter und der Welt der Menschen eingerissen.«
»Aber es wäre das Ende für die Menschen!«, stieß Awin hervor, als wüsste die Unsterbliche das nicht.
»Und du glaubst, das kümmert uns?«, fragte Isparra kühl. »Euch wurde geschenkt, was einst uns gehörte. Glaubst du, wir Alfholde werden den Menschen nachtrauern, wenn die Daimonen sie vertilgt haben?«
»Aber …«, begann Awin.
Die Alfskrole unterbrach ihn. »Still. Hörst du es nicht?«
Awin schwieg. Das Rauschen war wieder in der Luft, laut und gewaltig wie von hundert Raben. Ihm wurde kalt. Er wich zurück und wandte sich langsam um. Er war am Fluss. Awins Beine wurden schwach, und ein Ächzen entrang sich seiner Brust. Wo war er? Da kauerte eine Gestalt im schwachen Licht einer Kerze und murmelte Beschwörungsformeln. Ein Seher! Hatte der Seher ihn gerufen? Awin trat näher heran, um den Mann anzusprechen. Dann zögerte er, denn der Fremde verbarg sich unter einem Wolfsfell. Suog , durchzuckte es ihn. Er ging in die Hocke, aber das Gesicht des anderen blieb unter dem Wolfsschädel verborgen. Dennoch hätte er die Gestalt unter Tausenden wiedererkannt. »Ich grüße dich, Curru«, sagte Awin.
Der Mann hob den Kopf und murmelte weiter Beschwörungsformeln. Er sah durch Awin hindurch. Und als Awin ihn noch einmal ansprechen wollte, war er fort. Stattdessen sah er die Gestalt auf einem Schimmel in die Nacht davonjagen. Und als er blinzelte - fand er sich plötzlich am Hafen von Karno wieder. Er schüttelte den Kopf, um die wachsende Verwirrung abzuschütteln.
Suog, der eigentlich Curru war, schlich durch die Dunkelheit, und er war nicht allein. Dutzende Männer folgten ihm. Sie schlichen näher an die ahnungslosen Hakul heran, die dort wachen sollten, aber nicht auf die Nacht und ihre Schatten achteten. Awin sah Heugabeln, Knüppel und hörte die Männer murmeln. »Suog, Suog«, flüsterten sie. Dann flogen Steine. Die Hakul schreckten auf, griffen nach ihren Waffen, aber es war zu spät. Die Akradhai überrannten sie. Und plötzlich war der ganze Hafen voller kämpfender Männer. »Suog! Suog!«, brüllten sie. Awin folgte ihnen - und fand sich plötzlich bis zu den Knien im Wasser wieder. In der Stadt wurde gekämpft,
aber da, am Hafen: Eine Gestalt, halb Mensch, halb Wolf, lief von Boot zu Boot und legte Feuer. Wie Zunder flammten die Schilfboote auf. Awin erstarrte vor Schreck. Die Boote, Curru zerstörte die Boote! Er musste Merege, er musste die anderen warnen. Der Tempel! Er stand hinter der Statue der Inne und sah sich selbst auf dem Boden liegen. Awin zitterte. Diese Reise, es ging alles so schnell, der Anblick des eigenen, schlafenden Körpers. Er lag dort allein und verlassen. Allein? Nein. Da war noch jemand, dort an der
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