Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
Sag dem Airiskan, dass er auf uns zählen kann.«
»Ich werde es ausrichten«, erwiderte Merege.
Als sie die Bauern zurückließen, fragte Awin die Kariwa, was sie von diesen Neuigkeiten zu halten hatten.
Merege seufzte. »Narwa, die Stadt der Wächter, liegt am Laagsee, von daher ist es naheliegend, die Männer dorthin zu rufen. Das Skroltor liegt jedoch noch einige Stunden weiter nördlich, und ich hielte es für besser, wir würden dort unsere Macht sammeln.« Sie seufzte noch einmal, dann fuhr sie fort: »Wir sind kein sehr kriegerisches Volk, Awin. Es kommt vor, wenn auch nicht sehr oft, dass große Banden aus dem Ödland unsere Siedlungen im Süden überfallen, und dann verstehen wir es, uns zu wehren. Aber ein solches Heer wie jenes, das Eri hierhergeführt hat - ein solches Heer haben wir noch nie gesehen. Ich fürchte, unsere Männer sind keine Gegner für Eris Krieger.«
Awin schwieg. Die Nachbarn der Hakul, ob nun Budinier, Akkesch oder Viramatai, waren wehrhaft, und das mussten sie sein, denn sie lebten neben den Hakul. Er hatte schon gestaunt, als er gehört hatte, dass die Akradhai jenseits der Jurma so lange in Frieden gelebt hatten, aber er hätte nicht gedacht, dass er einmal ein Land betreten würde, in dem der Krieg nahezu unbekannt war.
»Die Stadt der Wächter - warum liegt sie so weit vom Skroltor entfernt?«, fragte er.
»Weit? Wenn du das Tor siehst, wirst du es verstehen, Awin. Auch Wächter haben Familien, und das Schwarze Tor ist wahrlich kein guter Ort, um Kinder aufzuziehen.«
Awin stutzte. »Kinder? Ich dachte, ich meine, du hast gesagt, dass eine Wächterin einen Mann versehentlich …« Seine Worte verebbten.
Merege lächelte. »Das ist richtig, doch ein Wächter kann lernen, sich davor zu schützen, dass ein anderer - oder eine andere seine Kraft nimmt.«
Awin war kein Wächter. War es dennoch …? Er öffnete den Mund zu einer Frage, aber dann schwieg er lieber.
Merege trieb sie weiter an. Sie rasteten nicht, nicht am Tag, nicht in der endlosen Dämmerung, und die Hakul schliefen im Sattel. Die Erde war unruhig. Immer wieder lief ein Zittern, manchmal auch ein Beben durch das Land. Der Kramar grollte und spie gelbgraue Wolken aus, die allmählich den Himmel verdunkelten. Feine Asche rieselte aus diesen Wolken herab. Sie setzte sich in ihren Haaren fest, auf ihrer Kleidung, dem Rücken ihrer Pferde und im Gras und den Bäumen. Allmählich legte sich ein dünner, schmutzig grauer Schleier über das Land. Sie kamen an verschiedenen Gehöften vorüber, und noch waren nicht alle verlassen. Zweimal hatten sie Glück und konnten einige ihrer Pferde wechseln. Es wurde wieder heller, was Awin
sagte, dass sie nun schon über einen Tag im Schneeland unterwegs waren. Obwohl ihm die Weite der Steppe fehlte, hätte das Land Awin vielleicht gefallen können - es gab schroffe Felsen, dichte Wälder, viel Wasser und saftige Weiden, doch das alles wurde nun mit einem unansehnlichen grauen Schleier überzogen, und wer den Staub einatmete, schmeckte Schwefel. Die Hakul legten ihre Staubschals vor die Gesichter und ritten mit düsteren Gedanken weiter.
»Asche in der Luft«, brummte Tuge. »Ich muss kein Seher sein, um das als böses Zeichen zu deuten.«
Irgendwann mussten sie dann doch rasten, denn Praane, der jetzt ein eigenes Pferd ritt, fiel schon fast aus dem Sattel.
»Zwei Stunden«, sagte Merege. »Unser Weg ist weiter als der des Heeres. Wir müssen uns beeilen!«, drängte sie.
»Wir werden den Kariwa keine große Hilfe sein, wenn wir auf dem Schlachtfeld einschlafen, und du weißt, dass Eile ein Freund des Unglücks ist«, erklärte Tuge mit einem herzhaften Gähnen.
Merege sah den Bogner an, als wolle sie ihm gleich an die Gurgel gehen, aber dann sagte sie: »Gut, aber in spätestens drei Stunden sitzen wir wieder im Sattel.«
»Für uns Hakul ist das keine Herausforderung, Merege, aber Ore Praane und Mahuk Raschtar haben noch nicht gelernt, im Sattel zu schlafen«, erklärte Awin begütigend.
Sie ließ ihn stehen und schickte sich an, einen nahen Hügel zu besteigen, vermutlich, um Ausschau zu halten.
»Wenn du nicht schlafen willst, Yaman, wäre ich dir dankbar, wenn du mich weckst«, sagte Tuge heiter und streckte sich ins grau verklebte Gras. Seit dem Marschland zeigte sich Tuge meist so. Den Schmerz, den er über den Verlust seines Sohnes empfand, verbarg er tief im Inneren, so wie auch Limdin versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie hart es ihn getroffen
hatte,
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