Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
seinen Bruder zu verlieren. Jetzt saß der Krieger dort drüben an einem Stein und döste vor sich hin. Awin bewunderte sie für ihre Haltung.
Er fühlte sich müde und zerschlagen, aber sein Geist war voller Unruhe. Der Tag der Entscheidung stand unmittelbar bevor. Er blickte zum graugelben Himmel. Es dämmerte wieder - oder noch? Awin hatte das Zeitgefühl verloren. Er streckte sich aus und schloss die Augen. Wenn er träumte, könnte er vielleicht Senis erreichen. Aber was wollte er ihr sagen? Sie wusste, dass sie sich beeilen musste, und er wusste, dass er die Hakul aufhalten musste, ob Senis nun erschien oder nicht. Dieser Gedanke raubte ihm den letzten Rest Ruhe. Was, wenn Senis nicht kam? Würden die Wächter die Hakul aufhalten können? Er hatte das Heer des Tiudhan gesehen, wenn auch nur aus der Ferne. Es waren sicher schon Hunderte gefallen oder zurückgeblieben, aber immer noch waren es Tausende, die nun durch dieses Land zogen, ihr Ziel so nah vor Augen. Was für ein Narr er gewesen war, dass er glaubte, sie mit Worten aufhalten zu können! Diese Hakul waren zu weit geritten, um unverrichteter Dinge umzukehren. Ein unmerkliches Beben lief durch den Boden. Kramar grollte.
»Yeku sagt, wir werden alle sterben«, meinte Mahuk.
Awin öffnete die Augen. Der Ussar stand dort, den Stock mit dem grob geschnitzten dreifachen Kopf in der Hand, und blickte ihn freundlich an. Die Asche in seinem schwarzen Bart gab ihm das Aussehen eines alten Mannes.
»Sag Yeku, dass das Unsinn ist«, entgegnete Awin mürrisch.
»Yeku sagt, wenn wir zählen, sehen wir, dass wir nicht siegen können«, lautete die Antwort.
»Zählen?«, fragte Awin und setzte sich auf. Er konnte ohnehin nicht schlafen.
»Tausende Hakul gegen acht von uns, vier Windskrole gegen eine. Wir können nicht siegen.«
»Das scheint dich aber nicht zu beunruhigen, Mahuk«, stellte Awin fest.
»Es kommt, wie es kommt. Ich habe den Boden und das Gras gekostet. Es ist ein gutes Land unter der Asche.«
»Den Boden gekostet?«, fragte Awin.
Mahuk nickte. »Guter Boden. Nur zu viel Frost. Sonst würde er mir gefallen. Aber er ist gut genug für ein Grab für den Ussar.«
Jetzt runzelte Awin besorgt die Stirn. »Du wirst nicht sterben, keiner von uns«, behauptete er.
»Wenn doch, dann bring Yeku nach Süden, bis du Männer aus meinem Volk triffst. Am besten einen Raschtar.«
»Das wird nicht nötig sein!«
»Versprichst du es?«, fragte Mahuk mit Nachdruck.
Awin zögerte - aber dann nickte er doch. »Ich verspreche es, Mahuk, aber ich denke wirklich, dass es nicht dazu kommen wird.«
Der Ussar zuckte mit den Achseln und ging davon. Dann legte er sich ins Gras, zog seinen Stab an die Brust - und fing bald darauf an zu schnarchen.
Awin erhob sich. Er war müde, aber er fand keine Ruhe. Er folgte Merege auf den Hügel, den sie erklommen hatte.
Er fand sie unter einigen Birken sitzend. Vor ihnen öffnete sich ein weites Tal. Das Licht war seltsam. Der Himmel war von gelblichem Grau, und es war Staub in der Luft. In der Ferne glitzerte Wasser in der mattroten, tief stehenden Sonne. »Ist das der Laagsee, von dem du uns erzählt hast?«, fragte er.
Merege starrte weiter hinüber. Dann sagte sie: »Siehst du, dort am Ufer haben sie ein Lager aufgeschlagen, das ist noch sehr weit vor der Stadt. Ich glaube wirklich, sie wollen sich den
Hakul auf offenem Feld entgegenstellen.« Sie klang niedergeschlagen.
»Das ist Wahnsinn«, stellte Awin nüchtern fest.
»Das ist es. Wir müssen ihnen das ausreden. Wecke die anderen, wir brechen auf!«
»Augenblick, Merege. Lass uns nichts übereilen. Wenn wir deinen Leuten ausreden wollen, diese Schlacht dort unten zu schlagen, müssen wir ihnen einen besseren Plan anbieten. Und den sollten wir wohl überlegen. Etwas Zeit haben wir noch, denn die Hakul werden sicher nicht vor morgen hier sein.«
Die Kariwa runzelte die Stirn. »Woher willst du das wissen, Awin? Das Ziel ist für Eri doch nun zum Greifen nahe, und er wird kaum zögern zuzuschlagen.«
»Das ist richtig, doch hat er viele erfahrene Yamane an seiner Seite. Sie werden ihm raten, nichts zu übereilen, denn auf einem müden Pferd kann selbst der tapferste Krieger nicht gut kämpfen.«
»Und wenn er nicht auf diese Yamane hört? Wenn ihm die Windskrole etwas anderes raten? Sie zuallererst werden es doch kaum erwarten können, das Tor zu öffnen.«
»Vielleicht hast du Recht. Dennoch wäre mir wohler, wenn wir einen Plan hätten, und dazu muss ich
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