Der Sohn des Sehers 03 - Renegat
schwer zu erraten, wer dafür verantwortlich war.
»Nyet der Zerstörer«, murmelte Tuge beeindruckt.
Awin nickte. Der Sturmwind hatte den Wall zerstört, und er hatte nicht an der Brücke Halt gemacht, sondern auch die Verteidigungswerke der Stadt vernichtet. Danach war es für die Hakul wohl ein leichtes Spiel gewesen. Awin konnte sich gut vorstellen, wie sie mit Kriegsschreien über die Brücke und in die Stadt gestürmt waren, die Verteidiger niedergemetzelt, geplündert hatten.
»Ich verstehe nicht, warum sie die Stadt auch noch niederbrennen mussten«, meinte Wela.
Auch Tuge hatte dafür kein Verständnis: »Ich an Eris Stelle hätte die Stadt besetzt. Das Heer braucht doch einen sicheren Rückweg. Und wenn die Akradhai die Brücke abbrechen, dann sitzen sie da drüben in der Falle.«
»Nicht, wenn ihnen ein Heer von Daimonen folgt, Tuge«, erklärte Awin.
»Oh, sie können die Brücke auch nicht so leicht abbrechen«, warf Jeswin ein. »Früher, ja, da war es ein schmaler Holzsteg, über den sich die Händler beklagten, weil sie immer fürchteten, hinunterzustürzen mit ihren schweren Wagen, und er war so schwach, dass er keinem Hochwasser widerstand. Doch vor einigen Jahren soll ein Maghai hier gewesen sein, einer dieser geheimnisvollen Zauberer aus dem Süden. Er zeigte den
Ackerleuten, wie sie eine Brücke aus Stein errichten konnten, so, wie es die Akkesch machen. Jetzt ist sie stark und fest, und kein Eisgang und kein Hochwasser kann ihr etwas anhaben. Sie dachten wohl nicht, dass sie sich jemals wünschen würden, sie einreißen zu können.«
»Mir scheint, dieser Maghai hätte ihnen besser beibringen sollen, ihre Mauern aus Stein zu bauen«, meinte Tuge trocken.
Von ihrem erhöhten Standpunkt zeigte sich, dass viele Menschen mit allerlei Gerätschaften an der hölzernen Wehrmauer beschäftigt waren. Awin sah Zimmerleute, die Baumstämme bearbeiteten, um die Bresche im Wall zu schließen. Er sah aber auch eine weitere Gruppe, die jenseits des Flusses, etwas entfernt von der Stadt, eine große Grube aushob. Einige hoch beladene Karren standen dort. Erst auf den zweiten Blick wurde ihm klar, dass Tote darauf gestapelt waren. Die Akradhai waren dabei, die Opfer der Schlacht zu beerdigen. Unten erklang ein Horn, das geschäftige Treiben endete jäh, und die Akradhai begannen durcheinanderzurennen.
»Sie haben uns entdeckt«, stellte Jeswin fest.
Awin seufzte. Er hatte gehofft, die Bewohner der Stadt überzeugen zu können, ihn und seinen Sger einfach über den Fluss zu lassen, da er ja kein Verbündeter, sondern ein Feind von Eri war, doch jetzt, als er sah, wie viele Menschen seinen Stammesbrüdern zum Opfer gefallen waren, wurde ihm klar, wie schwer das werden würde.
»Und deine Geliebte? Ist sie hier?«, fragte Jeswin plötzlich.
»Isparra ist nicht meine Geliebte, Yaman«, erklärte Awin, nicht zum ersten Mal. »Und nein, ich kann sie nicht entdecken.«
Jeswin nickte mit einem verständnisvollen Grinsen, wohl um anzudeuten, dass er Awins Versuch, diese Liebe zu verheimlichen, durchaus verstand, aber durchschaute.
»Und was tun wir jetzt?«, fragte Tuge.
»Limdin, hol mir einen Zweig«, bat Awin. »Ich will versuchen, mit den Akradhai zu reden.«
»Einen großen Zweig, Limdin, sie sollen ihn auf keinen Fall übersehen«, rief Tuge dem jungen Krieger hinterher.
Wela mischte sich ein: »Mit den Ackerleuten reden? Du weißt, dass sie dir nicht zuhören werden, oder? Sie werden dich vermutlich umbringen, wenn du dich ihrer Stadt näherst.«
»Ich muss es aber versuchen, Wela, denn wir können ja nicht hier warten, bis die Daimonen über uns kommen.«
Die Schmiedin wurde zornig. »Dann tu, was du nicht lassen kannst. Aber sage nicht, ich hätte dich nicht gewarnt!«
Awin sah Tuge an, dass er mit Wela einer Meinung war. Im Gegensatz zur Schmiedin widersprach er seinem Yaman aber nicht in Gegenwart Fremder. Leider wusste Awin, dass die beiden vermutlich im Recht waren. Jeswin schien hingegen fest an den Erfolg von Awins Ritt zu glauben: »Du hast den Gott des Todes beraubt und bist auf einer Seeschlange geritten - du wirst auch dieses Tor für uns öffnen. Oder deine Geliebte erscheint, und sie tut es für dich.«
Limdin kam mit dem Zweig zurück, und Awin ersparte sich eine Antwort auf die Bemerkung des Yamans. Er nahm das Friedenszeichen, schnalzte mit der Zunge und lenkte sein Pferd den Hügel hinab. Er durchquerte einige Weizenfelder, die die Bauern auf dieser Seite des Flusses
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