Der Sohn des Tuchhändlers
»Es sieht so aus, als ob die Geschichte mit Samuel und Zofia das Flämmchen gewesen wäre, das diesen Schwelbrand in Gang gesetzt hat, aber ich glaube mehr und mehr, dass etwas anderes dahintersteckt.«
Daniel blinzelte überrascht. Ich wich seinem Blick aus.
»Es sieht so aus, als sei alles ganz zwangsläufig geschehen, wie ein Sog, dem man sich nicht entziehen kann: die Unverfrorenheit, mit der die deutschen Patrizier hier über alles hinwegtrampeln, was polnisch ist; die Machtlosigkeit des Königs,der sich an die Juden hält, weil sie die Einzigen sind, die ihm zuverlässig erscheinen; Samuel, der über Zofia Weigel herfällt; Avellinos Gezeter; sein Tod … aber die Frage, die man sich stellen muss, lautet nicht: Wie konnte das alles passieren?, sondern: Wem nützt es?«
Julia schlich mit dem Kleiderbündel auf dem Arm aus dem Saal. Daniel räusperte sich. Ich konnte erkennen, dass seine Überraschung in Fassungslosigkeit umschlug, und von da war es nicht weit zu Ärger, doch ich ließ ihn nicht zu Wort kommen.
»Ich kann nicht erkennen, wem es nützt. Es nützt den Deutschen nichts, denn Avellino hat sie ins Zentrum des Hasses gerückt; es nützt den Juden nichts, denn solange die Geschichte mit Samuel und Zofia im Raum hängt, wird der Rat ihre alten Rechte nicht wiederherstellen – er wird höchstens noch weitere Einschränkungen verhängen. Den Polen nützt es auch nichts, weil der Rat, selbst wenn das hier gut ausgeht, dafür sorgen wird, dass so etwas nicht noch einmal vorkommt … was bedeutet, dass man es den polnischen Krakauern in Zukunft noch schwerer machen wird, sich in der Stadt zu entfalten. Es nützt dem König nichts, weil das, was er am dringendsten braucht, Geld ist, und aus der Stadt kommt keines, wenn Aufruhr herrscht. Die Kirche hat ebenfalls nichts davon. Selbst wenn Kardinal Jagiello ursprünglich gedacht haben mag, Avellino als Hetzer gegen die Juden einzusetzen, dann hat er sich von Anfang an verrechnet, denn Avellino predigte gegen die, die der Kirche die meisten Spenden bringen – die reichen deutschen Kaufleute. So wie es aussieht, haben alle nur Nachteile von dem, was hier vor sich geht.«
»Über wessen Angelegenheiten reden wir hier eigentlich, Vater?«
»Weder Samuels noch Zofias Eltern wollten, dass die Vergewaltigung rauskommt. Trotzdem hat es jemand Avellino gesteckt. Miechowita war es sicher nicht; man kann keine Geschäftemachen, wenn die Welt mit den Fingern auf einen zeigt und die Studenten einem obszöne Schmierereien auf die Hausmauer malen.«
Daniel ließ den Kopf hängen. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen. Immerhin blieb er sitzen – noch. Ich wollte sagen: Daniel, siehst du nicht, dass alles auseinander bricht, dass die Verhältnisse in der Stadt nur im Großen das widerspiegeln, was im Kleinen hier in diesem Haus passiert? Siehst du nicht, dass wir nicht gedeihen können, wenn die Stadt den Bach hinuntergeht?
Siehst du nicht …?
… dass ich das Rätsel um Samuel, Zofia und Julius Avellino zu lösen versuche, weil es lebenswichtig ist für Krakau …?
… und weil ich noch weniger Ahnung als von der Lösung dieser Situation davon habe, wie ich den Knoten durchhauen soll, der sich um mein Leben gewickelt hat?
»Zofias Vater kann es auch nicht gewesen sein. Vielleicht hat er anfangs gefürchtet, Samuel könnte straflos davonkommen – aber Samuels Eltern haben Laurenz Weigel Sühnegeld angeboten. Er hat es angenommen. Danach trotzdem zu Avellino zu gehen, wäre total unverständlich. Abgesehen davon hat Avellino nicht gegen die Juden gehetzt, sondern gegen die Deutschen.«
»Avellino interessiert keinen mehr, er ist ertrunken«, sagte Daniel in Richtung der Tischplatte, und ich konnte hören, wie verärgert er darüber war, wohin ich das Gespräch gesteuert hatte.
»Avellino wurde ermordet«, sagte ich. Daniel erstarrte, dann blickte er langsam auf. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.
»So viel ist sicher«, sagte ich. »Die Frage ist wieder: Wem nützt dieser Mord? Den Juden nicht – sie waren nicht in Avellinos Schusslinie. Den Deutschen, auf die er seine Hasspredigten münzte? Doch der Rat hätte Avellino nur auszuweisen brauchen. Ein Mord war nicht nötig. Den Polen? Die Narren, die auf demMarktplatz an seinen Worten hingen, sind nur eine Minderheit, aber für diese Minderheit war er ein Idol, und die anderen scherten sich bis jetzt nicht um ihn.«
Ich hörte ein Geräusch von draußen und blickte über die Schulter, aber niemand kam
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