Der Sohn des Tuchhändlers
Situation besser widergespiegelt; doch als ich dies dachte, wusste ich zugleich, dass ich Daniel Unrecht tat. Vermutlich tat ich allen anderen auch Unrecht, doch das Selbstmitleid kämpfte einen hartnäckigen Kampf gegen die bessere Einsicht und ließ sie nur schwer an Boden gewinnen. Wenn alles gut gewesen wäre, hätten Jana und ich Seite an Seite in unserem Schlafzimmer sein müssen; allein – uns gegenseitig in die Arme nehmend und uns versichernd, dass wir uns liebten und dass das Haus, das wir in unseren Herzen gebaut hatten, auf festem Boden stand.
»Ich habe sie abgefangen«, sagte Sabina.
»Ich brauchte den Rat eines anderen Menschen«, sagte Jana.
»Hat jemand von Ihnen Paolo gesehen?«, sagte die Kinderfrau, die hinter den beiden auf dem Gang auftauchte, und sah uns lächelnd und fragend an.
Ich wechselte einen Blick mit Daniel. Die Schritte, die wir auf dem Flur gehört hatten: zu schnell, zu hastig für eine erwachsene Frau, und gleichzeitig zu leicht. Und Jana … wäre nicht weggelaufen. Sie wäre in den Saal gestürmt, was immer sie mich brüllen gehört haben mochte. Kinderschritte.
Jana erstarrte, weniger von der Frage der Kinderfrau als von unserem Blickwechsel.
»Was habe ich gesagt? Schnell … Daniel, was habe ich gesagt?«
Was hatte ich gesagt? Daniels Blicke hingen an meinen fest. Ich wusste nur noch von einem, und ich wusste, dass ich es hier in diesem Moment niemals aussprechen durfte
… ob Jana einen anderen liebt …
ebenso wie ich wusste, dass auch Daniel es nicht verraten würde. Zwischen uns verlief ein Band, auch wenn es im Moment nur eines aus Streit und Ärger war. Was hatte ich gesagt?
Jana stürzte an der Kinderfrau vorbei in Richtung Paolos Zimmer. Ich brauchte ihr nicht zu folgen, um zu wissen, dass das Zimmer leer war. Sabina hastete hinter ihr her, die Kinderschwester machte den Abschluss. Daniels und meine Blicke hingen noch immer ineinander fest, als ob wir uns an den Händen gehalten hätten.
»Die Juden«, sagte Daniel
»Mojzesz Fiszel …«
»Ein Blutbad verhindern …«
Ich sah die Studenten vor meinen Augen, aus deren Händen mich Daniel und die Gesellen von Veit Stoß gerettet hatten. Ich sah, wie der eine der jungen Männer sich Paolo in den Weg stellte und ihn abfing. Ich hatte Paolo an mich gerissen, aber das sahich in meiner Vision nicht. Stattdessen zappelte Paolo im Griff des Burschen … und schlug um sich … und begann zu weinen. Wer sagte, dass sich die Kerle nach ihrer Niederlage gegen die Bildschnitzer endgültig getrollt hatten?
Wer sagte, dass sie den kleinen Burschen nicht wiedererkannten, der sich durch das Gewühl arbeitete … der keuchend zu dem Mann zu gelangen versuchte, den er als Teil seiner Familie betrachtete, um ihn davor zu warnen, dass ein Blutbad bevorstand?
Wer sagte, dass sie auch nur so weit wie zum anderen Ende des Platzes gegangen waren, anstatt direkt vor unserem Haus in der Gasse zu stehen und Paolo, der aus dem Tor hastete, einfach nur zu packen brauchten?
»Ich komme mit, Vater«, sagte Daniel, noch bevor ich wusste, dass ich aus dem Schlafzimmer gestürzt war.
»Wir nehmen vier Knechte und zwei von den Schreibern. Dann sind wir zu acht. Je ein Pärchen für jede Himmelsrichtung.«
»Er kann doch nur in eine Richtung gerannt sein …«
»Ja, wenn er bis dorthin gekommen ist.«
Wir waren bereits am Fuß der Treppe, als ich Jana meinen Namen rufen hörte. Sie und Sabina eilten über den Gang. Ich sah die Panik in Janas Augen.
»Er ist weggerannt«, sagte ich. »Er ist zu Mojzesz.«
Es dauerte die Zeit, die das Herz braucht, um einen Schlag zu tun und frisches Blut in die Adern zu pumpen; die ein langsamer Lidschlag benötigt, um Staub aus dem Auge zu waschen; den einen entsetzten Atemzug, den man tut, wenn man aus einem schlechten Traum hochschreckt. Ich stand auf einer der ersten Stufen der Treppe, Daniel ein paar Schritte unter mir; ich musste zu Jana und meiner Tochter aufsehen. Ich sah, wie Jana einmal blinzelte; ich fühlte, wie ihr Herz einmal schlug; ich hörte ihr rasches Einatmen.
Was hast du getan? Was hast du gesagt? Was hast du Paolo zugemutet, dass er davongelaufen ist? Was hast du ihn hörenlassen? Was hast du angestellt, um das kind aus dem haus zu treiben ?
Jana sagte nichts von alledem.
Sie sagte: »Du findest ihn wieder«, doch eigentlich sagte sie: Dieses Kind bedeutet mir mehr als mein Leben, und ich vertraue dir beides an: sein Leben und meines.
»Natürlich«, erwiderte ich, doch
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