Der Sohn des Tuchhändlers
befehligen; aber nicht mit beidem.« Sein rechter Unterschenkel hatte aus einem von den Jahren spiegelblank polierten Holzstumpf bestanden; ein Fass hatte sich während eines Unwetters losgerissen und sein Bein zerquetscht. Dann hatte er das Holzbein losgeschnallt und es einem der Knechte auf die Finger gehauen, der versucht hatte, sich aus seinem Weinkrug zu bedienen. »Aber für euch Landratten und zum Reiten reicht es allemal!«
Wenn es um ihn geht, erinnere ich mich hauptsächlich an zwei Dinge: daran, dass ich mich insgeheim fragte, was von ihm übrig geblieben wäre, wenn er die Seefahrt nicht aufgegeben hätte; und an seine Erzählung einer Sturmflut. Er hatte vonvielen Sturmfluten erzählt (und von so unglaublichen Dingen wie Meer jungfrauen , die in der Nacht aus dem Wasser und an Deck des Schiffes kamen, um es als Meer frauen wieder zu verlassen, oder von Fischen, die so groß waren wie Bauernhütten und Wasserfontänen in die Luft speien konnten, um die sie jeder Brunnenbauer beneidet hätte); von dieser einen aber hatte er mit Respekt erzählt. Sie war aus heiterem Himmel über einen dänischen Hafen hereingebrochen und hatte mehrere Schiffe zerschlagen sowie ein Dutzend Seeleute das Leben gekostet.
»Aus heiterem Himmel, mein Junge«, hatte der alte Haudegen beinahe flüsternd gesagt. »Keine Wolken, kein auffrischender Wind, kein plötzlicher Temperaturabfall, kein langsames Aufschaukeln der Wellen, wie man es gewöhnt ist – nein, mein Junge, nicht dieses Mal. Der Blanke Hans gab uns zwar eine Warnung, aber wir hatten sie nicht als solche wahrgenommen: Das Wasser im Hafenbecken fiel plötzlich ab. Wie bei Ebbe, mein Junge, aber bei Ebbe geht es allmählich und nicht auf ein paar Minuten. Ich sage euch, man konnte förmlich sehen, wie er einatmete – wie er seine Kraft sammelte. Dann fing irgendwer auf einem der geankerten Schiffe zu brüllen an, doch da war es zu spät. Keine der Koggen hatte das Krähennest besetzt; als man ihn von Deck aus herankommen sah, den Blanken Hans, war es zu spät.« Er hatte genickt und immer noch respektvoll dabei ausgesehen. »Ja, mein Junge, so war das. Wenn man richtig zuschlagen will, muss man zuerst weit ausholen.«
Tausend Gedanken jagten durch meinen Kopf, als ich die Judengasse entlanghastete und auf den Marktplatz einbog: ob es Paolo gut ging und was er im Augenblick tat, ob er durch die Gassen irrte und vor Angst nicht mehr nach Hause fand oder ob er den Studenten in die Hände gefallen war, mit denen ich mich heute um die Sext angelegt hatte
bitte, Gott, bitte, das von allen zuerst: dass Paolo nichts zugestoßen ist !
ob sein Verschwinden den Abstand zwischen Jana und mirwieder schließen konnte, so wie es möglicherweise die Kluft zwischen Daniel und mir geschlossen hatte
jeder andere Grund dafür wäre mir lieber gewesen!
ob es mir gelingen würde, Fryderyk Miechowita wieder aus unserem Leben hinauszudrängen; ob das, was ich vorhatte, das Richtige war, um Paolo zu retten; was ich unternehmen konnte, um Mojzesz zu helfen
sobald nur Paolo erst wieder in Sicherheit war!
und außerdem war zumindest das klar, oder nicht? Warum hat man ihn verhaftet, wenn nicht stellvertretend für die Judengemeinde und als Sündenbock für den Mord an Julius Avellino; und was kannst du schon tun, außer die Sache aufzuklären und den wahren Mörder zu finden, um Mojzesz zu helfen?
ob ich genügend Zeit hatte, all das in Ordnung zu bringen und meine eigenen Sorgen dazu …
… aber all diese Gedanken zerflatterten, als ich um den Pranger herum war und die Fläche vor dem Rathausturm zwischen der Flanke der Tuchhallen und dem Rathaus hindurch erspähen konnte.
Die Menschen, die sich noch dicht an dicht dort gedrängt hatten, als Daniel und ich daran vorbeigerannt waren, waren samt und sonders verschwunden. Von meinem Standpunkt aus sah ich nicht eine einzige Seele.
Nur ein einziger Gedanke erfüllte das Vakuum, das der unerwartete Anblick in meinem Kopf hervorgerufen hatte. Der Gedanke meldete sich mit dem zähen Dialekt des alten Kapitäns, mit dessen Treck ich tagelang durch den südlichen Teil des Deutschen Reichs gereist war, zu Wort. Eine Warnung, sagte er, aber wir hatten sie nicht als solche wahrgenommen.
Der Blanke Hans hatte tief eingeatmet und das Wasser für ein paar Augenblicke mitgenommen.
Wenn man richtig zuschlagen will, muss man zuerst weit ausholen.
Ich stolperte auf die weite Fläche zwischen dem Rathausturmund den Waagengebäuden hinaus. Die
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