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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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es für blond zu dunkel und für brünett zu blond war.
    »Wir haben das Gefühl für einiges verloren, was uns einmal wichtig war«, sagte sie.
    Sie wandte den Blick ab und rappelte sich mühsam auf. Ich blickte zu ihr hoch.
    »Gehen wir zurück«, sagte sie. »Hier zu sitzen bringt nichts. Danke, dass du mich gefunden hast. Wenn du nicht gekommen wärst, hätte ich mich hier nicht mehr wegbewegen können.«
    »Und dann?«
    »Entweder ist Paolo wirklich schon zu Hause, dann hat diese Sorge ein Ende. Oder er ist es nicht, dann wird es Zeit, ernsthaft ein paar Gefallen einzufordern, die sich im Lauf der letzten Jahre angesammelt haben. Speziell die auf dem Wawelhügel.«
    »Könige an ihre Schulden zu erinnern ist gefährlich.«
    »Du und ich«, sagte sie, »würden wir nicht noch Gefährlicheres wagen, um unserem Sohn zu helfen?«
    Ich stand ebenfalls auf. Sie atmete tief durch. Ihre Augen füllten sich erneut mit Tränen, aber diesmal drängte sie sie zurück. Sie musterte mich noch einen Augenblick, dann drehte sie sich um. Sie streckte die Hand aus, und ich ergriff sie.
    Glória in excélsis Deo , sangen die Mönche hinter uns, Et in terra pax homínibus bonae voluntátis.
    Sie ließ meine Hand nicht los, während wir in die Klostergasse hineinmarschierten. Es war ein Anfang. Vielleicht war es auch nur der Anfang vom Ende.

    Ich hörte die Stimme schon, als wir an der Abzweigung vorbeischritten, die uns von der Kloster- zur Weichselgasse geführt hätte. Janas Griff um meine Hand wurde fester – sie vernahm sie auch. Ich erkannte sie, obwohl sie schrill vor Hass und mittlerweile heiser war. Jana wurde langsamer.
    »Wir können hier in die Weichselgasse abbiegen«, sagte ich. »Es wäre nicht mal ein Umweg.«
    Jana sah mich an. »Es wäre sogar eine Abkürzung.«
    »Jetzt kommt es drauf an, Volk von Krakau!«, hörten wir die Stimme. »Treiben wir die Gottlosen ins Tal der Finsternis!«
    Beifall ertönte. Er klang dünn.
    »Welchen Weg wolltest du gehen?«, fragte ich sie.
    »Du meinst – ohne das dort?« Sie wies nach vorn.
    Ich nickte. Sie dachte nach.
    »Ich liebe es, über den Tuchmarkt zu gehen«, sagte sie dann. »Wenn die Läden offen haben, findet man immer was, was man brauchen kann – und wenn nicht, macht es Spaß, die Vögel aufzuscheuchen.«
    »Ich kann dich gut verstehen«, erwiderte ich.
    Sie musterte mich aus dem Augenwinkel. Ein Lächeln spielte um ihre Mundwinkel – zum ersten Mal seit langem wieder, wie mir schien.
    »Richtet die Pfähle auf!«, schrie die Stimme. »Was davon übrig bleibt, soll ihre Gräber zieren!«
    Ich hatte die Stimme so oft in den letzten beiden Tagen aus unmittelbarer Nähe gehört; doch erst jetzt fiel mir auf, dass ihr Besitzer einen Sprachfehler hatte. Es war, als ob die Entfernung sie besser hörbar machte; manchmal muss man Dinge, die einem Angst machen, von weitem wahrnehmen, um zu erkennen, wie jämmerlich sie wirklich sind.

»Ihr Anblick ist dem Herrn ein Gräuel«, schrie die Stimme. »Werfen wir sie in die Feuergruben!« Dräuel! , hörte ich ganz deutlich. Feuerdruben ! Und vorher: Dräber !
    »Lasst die Feuer droß werden! Lasst nicht ein Dramm Asche von ihnen übrig bleiben, das man im Dras verstreuen könnte!«
    Ich ließ Janas Hand nicht los, aber ich machte eine einladende Kopfbewegung. Wir setzten uns in Bewegung und ließen die Abzweigung zur Weichselgasse hinter uns. Ein paar Dutzend Schritte würden uns auf den Marktplatz hinaustragen, wo Julius Avellinos zerfledderter Erbe sein eigenes Gift spuckte. Ich konnte mir nicht denken, wo der Mob gewesen war, als ich vorhin den Marktplatz überquert hatte, aber jetzt war er zurück und lauschte Langnase.
    Als wir die Klostergasse verließen, erlebten wir eine Überraschung.

    Die Frage, wo die Verblendeten gewesen waren, fand ihre Antwort, als wir auf den Platz traten. Zwischen dem Rathausturm und dem Galgen war ein unordentlicher Haufen aufgerichtet – Knüppel, Äste und Wurzelwerk, das meiste davon glatt und alt und bleich aus dem beginnenden Zwielicht leuchtend, das der Schatten der westlichen Häuserfront verursachte. Sie hatten es vom Ufer der Weichsel geholt, das an den Flussbiegungen mit Schwemmholz übersät war. Der Haufen war nicht so groß, als dass er lange brennen würde, wenn man ihn ansteckte; um einem Menschen die Höllenqual des Flammentodes zu bereiten, würde er jedoch reichen. Ein paar Gestalten turnten auf dem Haufen herum und versuchten, einen grob entastetenStamm aufrecht so in

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