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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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ihn hineinzurammen, dass er festen Halt fand. Langnase stand davor, den Bemühungen den Rücken zugewandt, die Arme wie üblich ausgebreitet, so dass sein zerfranster Mantel wie die Schwingen eines besonders zerzausten Raben um ihn herumflatterte. Das Dach der Tuchhallen lag noch im Sonnenlicht; doch jetzt zog rasch ein Schatten darüber ähnlich dem, den ich schon vorher beobachtet hatte, und ich spähte nach Westen. Eine Wolke segelte an der Abendsonne vorbei. Sie war eine weitere Vorbotin einer Wolkenwand, die im Augenblick noch nicht zu sehen war, aber ich wusste, dass sie da war, ebenso zerfleddert wie Langnases Mantel und ebenso dunkel. Ich wusste nicht, ob ich mir das Donnergrollen vorhin nur eingebildet hatte, aber dort, wo die Wolkenwand jetzt war (ein paar Dutzend Meilen westlich von Krakau, die Distanz mit jedem Augenblick verringernd), würde es keinen Zweifel geben, dass der Donner grollte – und dass ein Unwetter herannahte, das sich der von den Menschen geschaffenen Situation innerhalb der Stadtmauern als würdig erweisen würde. Die Luft auf dem Platz war warm, doch ich sah, dass Langnases Mantel flappte und dass Windstöße auch an den Kleidern seiner Anhänger zerrten. Wir waren im Windschatten der Häuser an der Westseite des Platzes; es war nur eine Sache von wenigen Schritten, und die ohne Zweifel stickig heißen Böen würden auch uns erfassen. Janas Blick ruhte auf dem Galgen; jemand hatte einen Strick daran befestigt und eine Schlinge geknüpft, die hin und her schaukelte, als hinge bereits ein Unseliger daran und verzapple seine letzten Lebensmomente.
    All das war nicht das Überraschende.
    Überraschend war die Anzahl der Zuhörer, die Langnase um sich versammelt hatte.
    Sie war … jämmerlich.
    Nein, berichtigte ich mich, sie wäre jämmerlich gewesen, wenn es nicht klar gewesen wäre, dass diese paar Dutzend Fanatiker, der harte Kern der großen Menschenmenge vonheute Nachmittag, zu allem bereit waren. Sie waren die, die sich von Anfang an Avellinos Hasstiraden ergeben und nun in Langnase ihren neuen Messias gefunden hatten. Langnase hatte einen Fehler gemacht, indem er die Menge vom Marktplatz weg vor die Stadt getrieben hatte, um Holz für den Scheiterhaufen zu sammeln. Das hatte den anständigen Krakauern Zeit gegeben, zu sich zu kommen und sich zu fragen, was sie eigentlich taten. Sie waren nach Hause gegangen und hatten Langnase und die Unbeirrbaren sich selbst überlassen. Es wäre vermutlich zu viel verlangt gewesen, von ihnen zu fordern, dass sie gegen die verbliebenen Krawallmacher einschritten. Der Weg von der Ernüchterung zur Courage ist immer noch beträchtlich, selbst wenn man berücksichtigt, dass die Strecke von der Verblendung zur Ernüchterung noch weiter ist. Wenn sich die gleichen Geschehnisse in meiner Geburtsstadt Augsburg oder meiner früheren Heimat Landshut abgespielt hätten – wer hätte die Hand ins Feuer zu legen gewagt, dass dort nicht bedeutend mehr dem Prediger der Vernichtung treu geblieben wären? Tatsächlich waren es hier so wenige, dass der Rat ohne weiteres die Stadtwachen hätte ausrücken lassen und dem Spuk ein Ende machen können … wenn er nicht in seiner Weisheit beschlossen hätte, die Wachen aus der Stadt zu entfernen.
    Wir kamen bis zur Einmündung der Weichselgasse, bevor sie uns entdeckten … was an sich bemerkenswert war, da sich außer ihnen und uns niemand auf dem Platz aufhielt. Der Handel in und um die Tuchhallen war schon beim ersten Auflauf der Menge auf dem Platz zum Erliegen gekommen, und die Bewohner der Häuser rund um den Tuchmarkt, die ich vorhin noch wie betäubt am Rand des Platzes hatte stehen sehen, waren in ihre Häuser zurückgekehrt. Zweifellos hatten sie diese verschlossen, so wie die Juden die ihren verschlossen hatten. Ich vernahm Schritte hinter uns, dann packte jemand meine Schulter und versuchte mich herumzureißen.
    Ich folgte dem Zug; ich hatte die ganze Zeit über mit etwas Ähnlichem gerechnet. Der Angreifer war ein unscheinbarer Bursche mit unscheinbarem Aussehen, sah man von dem Funkeln in seinen Augen ab. Ich überrumpelte ihn mit meiner Bewegung. Sein eigener Schwung brachte ihn ins Stolpern und drehte ihn selbst halb herum. Ich half ein bisschen nach und stellte gleichzeitig einen Fuß zwischen seine Beine – er verhedderte sich und fiel mit einem überraschten Laut nach vorn und knallte auf den Boden.
    Sein Kumpan, der sein Bruder hätte sein können, starrte mich an. Ich starrte zurück, dann

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