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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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eine Pfütze getreten war. Und er schielte zu mir nach oben, sagte: Entschuldigung, Vater, rieb sich über den Hinterkopf und kletterte nochmal hinauf. Keine Träne, kein Geschrei, kein gar nichts. Ein Engel hat seine Hand zwischen seinen Kopf und die Mauer gehalten. Er sprang noch ein, zwei Mal, dann wollte er nach Hause, und als er darum bat, getragen zu werden, weil die Kletterei ihn zu sehr ›geschöpft‹ habe, trug ich ihn. Ich war froh, ihn tragen zu können, damit er nicht sehen konnte, wie ich im Nachhinein mit den Tränen kämpfte, weil mir plötzlich alles durch das Hirn schoss, was ihm hätte zustoßen können.«
    »So viele Schmerzen, und so viel Liebe«, wisperte Jana.
    Ich atmete tief und lange ein. »Keiner von uns hat sich an Paolo versündigt«, sagte ich dann. »Kein Unfall, der ihm zugestoßen ist, war von uns gewollt oder durch unsere Nachlässigkeit verschuldet; kein Streit zwischen uns und keine Bemerkung, die du oder ich im Zorn gemacht haben, hat ihn aus dem Haus getrieben. Er ist weggelaufen, weil er dachte, Mojzesz Fiszel vor Unheil warnen zu müssen. Er ist von unserer Liebe eingehüllt, und unsere Liebe wird ihn beschützen.«
    »Er kommt wieder zurück, nicht wahr? Alles wird sich aufklären, und er kommt heil zurück.«
    »Natürlich«, sagte ich. Und ich dachte: bitte, Gott, bitte … bitte!

    Ich öffnete die Haustür und trat hinaus. Das Donnern war mittlerweile so laut, dass es in der Bauchdecke stärker vibrierte als in den Ohren. Die Mischung aus Wetterleuchten und Blitzen explodierte alle paar Augenblicke mit grellem Weiß in die Gassen. Ich sah unwillkürlich zum Universitätsgebäude hinüber – die Stelle in den Schatten davor war leer. Sand wehte in meine Augen und meinen Mund. Als ich merkte, dass Jana nicht mit herausgekommen war, schlüpfte ich wieder hinein. Sie stand dicht hinter der Tür, den Kopf schief gelegt.
    »Das ist nicht der Wind«, sagte sie.
    »Was?«
    »Der Wind«, sagte sie. »Er spielt uns keinen Streich. Es ruft tatsächlich jemand.«
    Wir sahen uns an. Ich ließ die Tür los. Der Lärm von draußen tobte herein. Ich hörte nichts, aber ich wusste, dass ich es vorher gehört hatte.
    »Du hast Recht«, sagte ich.
    Ihre Blicke klammerten sich an meine.
    »Paolo«, sagte sie schließlich, warf sich herum und stürmte zurück in den dunklen Gang.

    Sie hatte Recht, und ich hatte die ganze Zeit über falsch gelegen. Paolo war nicht zu Mojzesz Fiszel gelaufen, sondern zu Fryderyk Miechowita. Er hatte gehört, welche Verdächtigungen ich über ihn und Jana geäußert hatte, und da er Miechowita von seinen Besuchen in Janas Haus zumindest vom Sehen kannte, hatte er sich zu ihm aufgemacht, um ihn zu fragen, ob er tatsächlich zwischen seinem Vater und seiner Mutter stand. Es sah Paolo ähnlich; hatte er nicht auch Friedrich von Rechberg ganz unbefangen gefragt, ob er an den Galgen müsse? Tatsächlich war ich es gewesen, dessen Eifersucht ihn dazu getrieben hatte, wegzulaufen, und alle schönen Worte von Schuld und Unschuld, die ich vorher an Jana gerichtet hatte, wurden in meinem eigenen Mund zu Asche. Der Schuldige ist der, der am lautesten von seiner Unschuld redet. Diese Gedanken schossen mir durch den Kopf, als ich die Türklinke losließ und Jana hinterherlief. Ich hörte, wie Jana laut »Paolo!« schrie und wie die Tür hinter uns aufflog von einer besonders starken Bö oder weil ich sie nicht richtig geschlossen hatte und wie der Wind aufheulte und wie die Tür mit jenem knirschenden Krach gegen die Wand knallte, der einem sagt, dass etwas kaputtgegangen ist; wie die Stimme Paolos oder die Stimme des Windes oder die Stimme, die in unserer beider Herzen rief, Jana antwortete
    … und wie der Donner hereinrollte, der Donner, der auf den Blitzen ritt und nun fast über der Stadt war
    … und wie Jana die Türen aufstieß, die sich in der flackernden Dunkelheit des Ganges im Erdgeschoss links und rechts des Eingangs bis zu der Treppe im Hintergrund hinzogen (das Aroma von Wein aus einem der Lagerräume, der Duft von Gewürzen aus einem anderen, der Geruch von gegerbtem Leder aus einem dritten; über allem: der Gestank aus den Eingeweiden der Stadt, die der Druck den Unwetters hervorquellen ließ und der mit dem Wind zur aufgedrückten Eingangstür hereinwehte)
    – »Paolo, ich bin gleich da! Ich bin gleich bei dir! Paolo!« –
    … und ich hörte mich selbst, wie ich nicht weniger laut nachPaolo rief, bis Jana an einer der Türen scheiterte und mich mit

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