Der Sohn des Tuchhändlers
ist schon unheimlich genug.«
»Die Rufe sind Tricks, die der Wind uns spielt«, sagte ich. »Hier draußen jedoch …«
Der nächste Blitz ließ aus den hellen Flächen des Gassenverlaufs dunkle Felder werden und aus den Schatten Helligkeit. Ich sah jemanden, der an die Mauer der Universität gelehnt auf dem Boden lag; ich sah genau in seine Augen. Er war keine zwanzig Mannslängen entfernt und starrte zurück. Dann war die Nacht wieder da und versteckte ihn. Ich bildete mir ein, seine Augen immer noch funkeln zu sehen. Die Schatten gerieten in Bewegung; die Gestalt regte sich, kroch ins Helle und starrte nach oben. Unwillkürlich wich ich einen Schritt vom Fenster zurück. Die Gestalt war ein Mann. Der Rausch hatte sein Gesicht verzerrt, und das zuckende Licht ließ es zur Fratze werden. Er öffnete den Mund, und auf allen vieren auf dem Boden kriechend wie ein Hund begann er gegen das Haus zu brüllen, gegen das Fenster, gegen mich, gegen die Welt. Ich konnte kein Wort hören, doch ich wusste, was er brüllte: » brenne ! brenne ! brenneeeeee !!« Er kroch rückwärts wieder zurück und verschmolz mit der Dunkelheit. Ich wandte mich vom Fenster ab.
»Hier ist niemand«, sagte ich. »Gehen wir nach Hause.«
Sie nickte. Ihre Lippen waren dünn. »Alles bricht auseinander«, flüsterte sie.
Als wir uns durch das Treppenhaus nach unten tasteten, vernahm ich die Geräusche, mit denen Jana ihr Weinen zu unterdrücken versuchte. Die Stufen, die sich vor mir ins Erdgeschoss erstreckten, schienen zu rollen wie der Aufgang zu einem Schiff. Hühnerleiter, hatte ich einmal dazu gesagt, und Paolo Calendar, der venezianische Polizist, dessen Namen Paolo trug, hatte mich eine Landratte genannt und erklärt, man sage Fallreep dazu. Ich blieb stehen.
»Erinnerst du dich noch an den Tag, an dem Paolo die Treppe hinunterfiel?«, fragte ich, ohne mich umzudrehen.
Sie gab keine Antwort, doch ich wusste, dass sie mir zuhörte. Der Wind mit seinen merkwürdigen, geisterhaften Rufen war hier auf der Treppe lauter zu hören. Vielleicht hörte ich die Rufe auch nur in meinem Kopf.
»Hat er dir erzählt, wie er mir einmal von der Mauer gefallen ist, die die Häuser auf der Südseite des Doms abgrenzt?«
»Nein«, sagte Jana erstickt.
»Ein bisschen weiter hinten, wenn man schon fast bei der Apsis angekommen ist, hat die Mauer eine Bresche. Man kann ganz bequem an der Bruchstelle hinaufklettern bis zur Mauerkrone.«
Wir standen am Treppenabsatz. Jana war hinter mir, eine oder zwei Stufen weiter oben. Ich blickte ins Erdgeschoss hinab. Jana schluchzte unterdrückt. Der Anblick der zuckenden Stufen verschwamm vor meinen Augen, als ich die Tränen nicht länger zurückhalten konnte. Ich hörte mich reden; meine Stimme klang vollkommen ruhig.
»Paolo kann nicht älter als drei oder vier Jahre gewesen sein. Er flehte mich an, auf die Mauer klettern zu dürfen. Ich erlaubte es ihm. Bevor er sich auf den Weg machte, drehte er sich um und erkundigte sich, was wäre, wenn er nicht mehr herunterkäme – typisch Paolo. Ich sagte: Dann springst du, und ichfange dich auf. Er kletterte auf die Mauer wie ein Eichhörnchen, stand oben – mit ausgestreckten Händen hätte ich seine Knöchel umfassen können, so hoch war er oben –, grinste mich an und sagte … und in diesem Moment redete mich jemand von der Seite an und grüßte mich, und ich wandte mich um … und Paolo sagte: Ich komme nicht mehr hinunter, Vater – und sprang.«
»Das hat er nie erzählt«, sagte Jana.
»Ich spüre diesen Aufprall noch immer. Überraschend heftig – so ein kleiner Kerl, aber als er mich traf, hatte ich das Gefühl, jemand habe einen Sattel nach mir geworfen. Ich reagierte so gut wie gar nicht. Ich riss zwar die Arme hoch, aber zu dem Zeitpunkt lag Paolo schon auf dem Boden. Ich muss gezuckt haben oder irgendwas; er rutschte nicht einfach an mir nach unten, sondern er prallte buchstäblich ab, und weil ich so dicht vor der Mauer stand, knallte er mit dem Kopf dagegen und saß dann auf der Erde wie ein Vogel, der aus dem Nest gefallen ist.«
Mein Herz hatte erst ausgesetzt und dann Eiswasser in meinen Körper gepumpt. Ich hatte auf Paolo hinabgestarrt. Ich war sicher gewesen, dass er den Schädel zerschmettert hatte. Ich hörte ein Geräusch, das durch mein Inneres raste und wortlos gellte, und darüber hinweg hörte ich mich weitererzählen.
»Du musst rechtzeitig vorher Bescheid geben, sagte ich, als wäre nichts Schlimmeres geschehen, als dass er in
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