Der Sohn des Tuchhändlers
Rathausturm Zuflucht (und Hilfe) gesucht hatte, als er erkannte, dass sein Sohn verschwunden war. Die Parallele zwischen ihm und mir schockierte mich. Und mir wurde endgültig klar – falls es das nicht schon längst gewesen war –, dass Samuels Vater von der Unschuld seines Sohnes aus vollstem Herzen überzeugt war. Statt sich zu verbarrikadieren oder, wie seine Nachbarn glaubten, die Stadt schon längst zusammen mit seiner Familie verlassen zu haben, hatte er den risikoreichen Weg ins Rathaus auf sich genommen, um nach seinem Sohn zu suchen; ein Weg, der quasi durch Feindesland in das Lager derer führte, die ihm kaum geringere Feinde waren. Der dann dort festsaß, weil wieder hinauszugehen einem Selbstmord gleichgekommen wäre, wenn man Jude war und den Namen ben Lemel trug und der Vater des Mannes war, den zuerst Avellino und dann Langnase in den Scheiterhaufen ihrer Beschimpfungen hatten brennen lassen. Währenddessen hatte Samuel sich bei Miechowita versteckt gehalten. Ich brauchte ihn nicht zu fragen, wie es zugegangen war, dass er dort Asyl erhalten hatte; wenn er bei Miechowita um Hilfe nachgesucht hatte, hatte dieser sie ihm auf jeden Fall bedenkenlos gewährt: Samuelwar eine der Schlüsselfiguren in der ganzen Situation, und solange der Mob ihn nicht in seinem Haus entdeckte und ihm das Dach über dem Kopf ansteckte, mochte seine Gegenwart sich als politisch nützlich erweisen. Zudem war Miechowita auf irgendeine noch nicht ganz erschlossene Weise teilverantwortlich für das, was Samuel getan hatte (oder was man ihm anzuhängen versuchte), und wenn Samuel in seinem Haus war, konnte er niemandem in die Hände fallen und irgendetwas erzählen, das Miechowita wirklich in Schwierigkeiten brachte.
All das wurde mir in dem einem Augenblick klar, in dem Samuel seine höflich formulierte Erklärung für sein Hiersein abgab.
»Sie sind der Kerl, der mit dem alten Fiszel bei Wit war«, sagte Samuel und versuchte, sein Zusammenzucken zu unterdrücken, als der nächste Blitz von der Treppe herunterleuchtete und sein Licht durch die offen stehende Eingangstür sandte. Seine Blicke wanderten wieder an mir auf und ab, doch mit deutlich weniger Selbstsicherheit als im Keller von Veit Stoß. »Kommen Sie von Wit? Oder von Fiszel, der alten Tante?«
»Wir suchen nach Fryderyk Miechowita.«
Samuels Stirn runzelte sich. »Wieso suchen? Ham Sie ihn denn nicht gefunden? Er is doch oben, mit Gott weiß wem. Ich hab sie doch rumlaufen gehört.«
Samuels Gestalt schien sich plötzlich deutlicher aus der Finsternis abzuheben als vorhin. Ich sagte: »Was?«
Samuel deutete mit einer schlaffen Geste über seine Schulter. »Er muss oben sein. Ham Sie die Tür zugeknallt?«
»Wir waren es zwar nicht, aber sie knallte zu, als wir gerade hereingekommen waren, das ist richtig.«
»Na eben. Ich hab die Scheiß-Tür doch gehört. Und davor sind sie oben noch rumgelaufen. Haben sogar irgendwas Schweres umgeschmissen.« Sein Gesicht verzog sich zu einem Grinsen, das nur eine Gesichtshälfte erreichte und noch weniger echt aussah.
»Wann war das mit dem Geräusch?«
Er starrte mich an. Jana starrte mich an. Ich erkannte, dass ihre Augen sich in allmählichem Verstehen weiteten. Samuels Augen waren genauso flach wie vorhin.
»Versteh nich, was daran so wichtig sein soll«, sagte er.
»Wann, verdammt?«
»Na ja, eins ging ins andere über, sozusagen.«
Ich wandte mich ab. Ich begann zu schwitzen.
»Jana«, sagte ich langsam und schwitzte noch mehr, weil ich mich zwang, langsam zu sprechen, »nimm diesen Idioten und bring ihn hinüber in unser Haus. Ich sehe nach.«
»Ich …«, begann sie. Dann verstummte sie, weil sie verstanden hatte, was Samuels Worte bedeuteten. Sie schüttelte den Kopf, als könnte sie nicht wieder damit aufhören.
»Kein Hinterausgang«, sagte ich.
»Ich lasse dich nicht allein.«
»Doch, das wirst du. Erinnerst du dich? Jeder tut das, wozu er am besten in der Lage ist.«
»Wir haben keine Zeit«, sagte sie.
»Genau.«
Ihre Schultern sanken herab. »Gott behüte dich«, sagte sie.
»Wahrscheinlich ist alles ein Irrtum, und ich hole dich noch vor deinem Tor ein.«
Sie nickte jetzt. Sie glaubte mir kein Wort. Ich wandte mich ab und spähte die Treppe empor.
»Ich geh nirgendwo hin«, verkündete Samuel. »Ich will mit Miechowita reden.«
»Du gehst mit Jana«, sagte ich mit einer Wut, die schneller erwachte, als ich meine Zunge bändigen konnte. »Und wenn ich noch ein Wort von dir höre, du
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