Der Sohn des Tuchhändlers
dass der jeweils andere da ist, aber sie sehen ihn nicht, sie hören ihn nicht, sie versuchen zu erraten, welche die richtige Aktion ist und warten darauf, dass der andere einen Fehler macht. War ich die Katze oder war ich die Maus? Ich hörte das Grollen von draußen, und ich glaubte sogar den Brandgeruch wieder wahrzunehmen, den der Wind hereingetragen hatte. Das Haus um mich herum atmete einen langsamen, gespannten Rhythmus. Keine Geräusche … ich erklärte jener Regung tief in mir, dass ich allein hier war, aber sie glaubte es nicht.
Schließlich bückte ich mich und hob den Schuh auf, ohne die Blicke vom Gang abzuwenden. Ich schnupperte hinein. Er war getragen worden. Ich musterte die Türenseite des Gangs, ganz besonders die Stelle, an der sich darunter der Eingang zu Samuels Versteck befand. Langsam begann sich eine Erkenntnis in mir zu regen …
In der Vision, in der ich als gehörnter Liebhaber in Miechowitas ganz anders aussehendes Haus gestürmt war, hatte ich mich bis zu einer Kammer vorgekämpft, die ähnlich wie die in Janas Haus nur durch ein anderes Zimmer zu betreten war.
… die Erkenntnis, dass das Fehlen einer Tür in einer Wand nicht unbedingt bedeutete, dass dahinter nicht doch ein Raum lag.
Ich marschierte wieder nach vorn, ohne mir noch die Mühe zu machen, leise aufzutreten. Ich stieß die Tür in das Zimmer auf, in dem Jana und ich schon gewesen waren. Miechowitas Geschäftspapiere lagen immer noch da, wo der Windstoß sie hingeweht hatte. Ich schritt über sie hinweg, und im nächsten Blitzflackern sah ich mich um. Ich entdeckte die Seitentür sofort.
Sie war sogar in der richtigen Wand.
Ich war wieder in meiner Vision. Darin hatte meine Hand schon auf der Klinke gelegen, aber dann hatte ich nicht die Kraft gehabt, sie niederzudrücken, und bevor ich erwacht war, hatte ich das Gefühl bekommen, dass der einzig richtige Weg sie zu öffnen ein Tritt mit dem Fuß war. Ich sah meine Hand auf der echten Klinke in Miechowitas echtem Haus ruhen und kam auch jetzt wieder aus der Vision zurück, doch nun erschien mir der Fußtritt als die einzig falsche Lösung zum Öffnen der Tür.
Ich drückte die Klinke nieder und die Tür auf.
Hatte ich wirklich geglaubt, Miechowita sei Janas Liebhaber? Darauf gab es nur die eine Antwort, für die ich mich in hundert Jahren noch schämen würde: Ja.
Hatte ich wirklich geglaubt, Jana brauche Zeit für die Entscheidung zwischen ihm und mir, und dass die Entscheidung in ihrem Herzen schon gefallen war, nämlich gegen mich?
Auch das.
Hatte ich wirklich geglaubt, dass sein geckenhaftes Auftreten, sein überlegenes Grinsen, sein blendendes Aussehen und sein glühender Ehrgeiz, sich über seine Landsleute zu erheben wie der Adler über den Hühnerhof, in Janas Augen mehr wog als all die guten und schlechten Zeiten, die wir zusammen erlebt hatten, aus denen wir entweder lachend oder weinend, auf jeden Fall aber gemeinsam herausgegangen waren?
Hatte ich.
Und hatte ich Miechowita nicht auch mit all der Wut, die der Unterlegene seinem vermeintlich siegreichen Nebenbuhler entgegenbringt, gehasst ?
Ich stand in der geöffneten Tür zu Fryderyk Miechowitas Kammer und fragte mich, wie um alles in der Welt ich diesen Gefühlen in meiner Seele hatte Raum geben können. Und was Fryderyk Miechowita selbst betraf, so empfand ich für ihn jetzt das Mitleid, das jeder anständige Mensch fühlt, wenn er vor einem Mordopfer steht.
Das Licht von dem einen Fenster ließ ihn zittern und zucken, doch in Wahrheit bewegte er sich nicht. Er wies keine auf den ersten Blick sichtbaren Verletzungen auf; das zierliche Messer, das neben seiner linken Hand lag, war nicht benutzt worden, um es ihm in den Leib zu stoßen, und selbst wenn, wäre er nach dem Kontakt mit der kurzen Klinge allenfalls ein Fall für den Bader gewesen, der die Wunde zunähte. Es musste ihm gehört haben, er hatte es noch gezückt, aber zum Einsatz gebracht hatte er seinen pathetischen kleinen Obstschäler nicht mehr. Seine Augen waren halb geöffnet, eines weiter als das andere, was ihm einen spöttischen Ausdruck verliehen hätte, wenn sein Gesicht nicht die Schlaffheit des Todes besessen hätte. An einem Fuß trug er einen Schuh, am anderen war er barfuß. Ich hob den Schuh hoch, den ich in der Hand trug. An Miechowitas Fuß war sein Gegenpart. Ich ging in die Hocke und legte den Schuh vorsichtig neben den bloßen Fuß.
Dann hörte ich, wie die Tür unten zuschlug und wurde mir wieder bewusst, dass
Weitere Kostenlose Bücher