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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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Tür, die derjenigen im Untergeschoss entsprochen hätte. An der gleichen Stelle im Obergeschoss befand sich eine glatte Wand. Was immer Samuel gehört hatte, Geräusche aus dem Obergeschoss waren es ganz sicher nicht gewesen. Es gab gar kein Zimmer über dem Lagerraum, in dem er sich verborgen gehalten hatte.
    Am jenseitigen Ende des Gangs flackerte Blitzlicht herein. Es war nicht so grell wie vorhin, es schien vielmehr einen Umriss nachzuzeichnen. Dort vorn war noch eine zweite Tür offen. Wir konnten sie nicht geöffnet haben – so weit waren wir im Obergeschoss gar nicht vorgedrungen. Ich merkte, dass ich schon halb auf dem Weg dorthin war, bevor ich meine Überlegungen beendet hatte. Ich glitt an der Wand entlang wie ein Attentäter und hatte das Gefühl, alle Türen auf einmal im Blickfeld behalten zu müssen. Ich hatte von weitem gesehen, warum die plötzliche Zugluft vorhin die Tür am Ende des Gangs nicht auch geschlossen hatte: Etwas lag auf der Schwelle und hinderte sie daran. War das Hindernis vorhin auch schon da gewesen? Ich hatte keine Erinnerung. Wir hatten nur oberflächlich geschaut.
    Schließlich war ich nahe genug heran, dass ich sehen konnte, was es war, und das Pochen in meinen Ohren verstärkte sich. Es war ein Schuh. Es war, soweit man erkennen konnte, ein teurer Schuh.
    »Miechowita«, flüsterte ich.
    Die zwei, drei Schritte über den Gang hinweg bis zur Tür kamen mir vor, als ginge ich sie steil bergauf. Wenn jemand in diesem Raum war, musste er mich schon lange gehört haben. Wenn er zuließ, dass ich die Tür erreichte, war ihm der Fluchtweg abgeschnitten. Die Tür öffnete sich vielleicht einen Zoll, von der ewigen Zugluft sanft gestupst, kam wieder zurück, klemmteden Schuh zwischen sich und der Türschwelle ein, verharrte und öffnete sich dann wieder um den gleichen Zoll, ein Vorgang, der vollkommen lautlos vor sich ging. Der Schuh lag auf der Seite, mit der Öffnung zu mir her; ich konnte die Stickereien im Leder schimmern sehen und die Schnallen an zwei Lederriemen, die quer über den Rist gespannt waren. Als die Tür erneut von ihm gestoppt wurde, legte ich die Hand auf das Türblatt, so sanft, dass ich den Gegendruck des Windes spüren konnte. Spät kam mir zu Bewusstsein, dass ich nicht einmal einen Prügel als Waffe hatte. Ich drückte leicht, ganz leicht gegen die Tür und spürte den Widerstand des Luftzugs und meiner eigenen Angst.
    »Wir können das sicher friedlich regeln«, hörte ich mich laut sagen, aber da hatte ich die Tür schon aufgestoßen und stand mitten im Raum.

    Das Zimmer war leer. Ich meine damit nicht nur, dass sich niemand darin befand; es war auch vollkommen ohne jedes Mobiliar oder irgendwelche Gegenstände. Im Blitzlicht schwankten kahle Wände und ein unebener, dunkler Holzboden. Die Tür schlug, und ich wirbelte herum, doch sie war ganz einfach nur dem Luftzug gefolgt und hatte ihr altes Spiel mit dem Schuh erneut aufgenommen. Der Schuh …
    Man hatte mich hereingelegt!
    … der so dalag, dass er die Tür aufhalten musste … dass ich ihn sehen musste … dort am anderen Ende des Gangs …
    Eine Falle …
    Ich stürzte hinaus, stolperte über den verdammten Treter und schoss ihn unfreiwillig gegen die jenseitige Wand. Ich erwartete, eine drohende Gestalt über den Gang kommen zu sehen, die Arme ausgestreckt, im Begriff, mich in dem kleinen Raum einzuschließen oder hereinzukommen und über mich herzufallen, aber der Gang war leer. Ich blieb stehen, weil ich erwartete, dass es im nächsten Moment geschehen würde … und ich glaubte zu wissen mit einer jener Eigenschaften, die ganz tief drin inuns verborgen sind und die Gott, der Schöpfer aller Dinge, den Tieren genauso wie uns Menschen eingegeben hat, dass ich nicht allein war … dass da noch jemand war, gespannt, geduckt, den richtigen Zeitpunkt abwartend … und es dauerte jene paar Augenblicke, in denen nichts geschah, bis ich wieder so weit ich selbst war, dass ich nachdenken konnte.
    »Also gut«, sagte ich. »Ich weiß, dass Sie da sind, Miechowita. Kommen Sie raus. Wir müssen uns nicht wie Idioten aufführen.«
    Keine Antwort. Ich wartete noch ein wenig. Keine Geräusche, kein Knarren von Holzdielen, die eine unbewusste Bewegung verursachte, kein unterdrücktes Husten von der Sorte, die sich immer dann einstellt, wenn es lebenswichtig ist, nicht gehört zu werden. Ich fühlte mich, als würde ich die Situation der Katze vor dem Mauseloch erleben – sowohl Katze als auch Maus sind sicher,

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