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Der Sohn des Tuchhändlers

Der Sohn des Tuchhändlers

Titel: Der Sohn des Tuchhändlers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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ich vor dem Weichseltor abbog und dem Mauerverlauf nach Süden folgte. Die weite Gasse, die zum Franziskanerkloster führte, kam zu meiner Linken in Sicht. Ich lief daran vorbei. Mein Atem pfiff in meiner Kehle. Es regnete immer noch nicht. Normale Unwetter brachten den Regen sofort mit sich, schoben ihn quasi vor sich her, noch bevor sie sich über der Stadt austobten, aber mir war schon seit dem frühen Abend klar, dass dies kein normales Unwetter war, sondern zu denen gehörte, an denen die nächsten paar verstreichenden Jahre gemessen würden.
    Plötzlich hatte ich die Vision eines Mannes, der in einer leeren Kirche auf und ab ging, die Kerzen flackerten wild in der Zugluft, einige verloschen und sandten Rauchfäden in die Luft, die sofort verweht wurden, der Donner rollte in dem riesigen Bau, als habe er sich durch eines der Fenster Einlass verschafft, und der Mann hatte die Hände gefaltet und betete, stieß die Worte hervor wie ein Rasender
    Dies irae, dies illa!
    und Quantus tremor est futurus!
    und Qando Judex est venturus!
    Kardinal Jagiello, der in dem Unwetter den Zorn Gottes über den Mord an Julius Avellino erblickte und das Gericht über die verfluchte Stadt herabbeschwor, in der dies hatte geschehen können …
    … und zugleich sah ich einen anderen Mann vor mir, die Jarmulke auf dem Kopf, der in einem kleinen Raum kniete, ebenso von Kerzengeflacker erfüllt und vom Donner durchtost, nur dass die Kerzen auf einem siebenarmigen Leuchter brannten, und der Mann flüsterte: Barukh atah Ha-shem, Elokaynou, melekh haolam – gepriesen seist Du, Herr unser Gott, König des Universums,beschütze Dein Volk in der Stunde des Zorns und lass es nicht schwanken im Angesicht des Verderbens …
    Ich stand vor den Häusern der Domherren, die links und rechts die Kanonikergasse säumten. Der Wind schob mich jetzt an, meine Beine waren wie aus nassem Ton und stampften dennoch voran, ich stolperte an der Längswand von Veit Stoß’ Haus vorbei und platzte in die Vorstadtgasse, fing mich und stemmte mich gegen den Wind. Nur noch ein paar Dutzend Schritte bis zu Friedrichs Haus … die Gasse war menschenleer, der Wawel voraus eine Form wie ein in der Bewegung erstarrter Erdrutsch, einen wahnwitzigen Augenblick glaubte ich die Drachenknochen aneinander schlagen zu hören, die über dem Eingang der Michaelskirche in der Burg aufgehängt waren, doch es waren nur meine Schritte, und dann stand ich vor dem Logis Friedrichs und war sicher, dass meine Brust zerspringen müsste. Das Tor stand halb offen.
    Ich machte einen Laut.
    Eine Gestalt erschien in der Öffnung und griff nach dem Torflügel, ein Blitz ließ ihren Schatten einmal um sie herumzucken und machte mich für Augenblicke blind. Ich hörte eine Stimme, bevor der Donner alles ertränkte.
    »Peter?«
    Ich torkelte auf das Tor zu. Jemand ergriff meinen Arm und zog mich vorwärts. Ich drehte mich um. Meine Augen brannten vom Staub und vom Schweiß, der hineingelaufen war. Undeutlich sah ich, wie sich Friedrich gegen das Tor stemmte, um es zu schließen. Meine Erleichterung machte meine Knie weich. Friedrichs Haar flatterte im Wind, als er mit dem schweren Torflügel kämpfte, seine weiten Ärmel bauschten sich wie die Schwingen eines Vogels, der panisch in seinem Käfig herumtaumelt.
    »Peter!«, schrie er über das Getöse. »Was machst du hier? Gott sei Dank, dass ich dich gesehen habe. Ich wollte gerade das Tor schließen, bevor …«
    Etwas prallte gegen mich und schleuderte mich zu Boden.Ich schluckte Sand und Staub und versuchte, Luft zu bekommen. Eine Naturgewalt riss mich vom Boden hoch, ich schlug blind ein paar Luftlöcher und bekam ein haariges Handgelenk zu fassen, dachte einen irren Augenblick lang: Das hatten wir doch schon!, dann klärte sich mein Blick, und ich sah das Gesicht des Säcklergehilfen vor mir. Er hatte die andere Faust erhoben, und es gab keinen Zweifel daran, dass sie mein Gesicht zermalmen würde, wenn sie mich traf. Ich ruderte mit dem freien Arm. Friedrich von Rechberg schwamm in mein Gesichtsfeld, wechselte einen Blick mit dem Säcklergehilfen, und ich sah, wie Verstehen seine Augen weitete (dasselbe Verstehen, das kalt wie Flusswasser in meine Glieder rann) und Entsetzen seine Züge so jung machte wie die eines Knaben.

    Der Säcklergehilfe ließ mich einfach los, und ich sackte zusammen und saß auf dem Boden. Er trat zurück und verschmolz mit den Schatten, die die Gebäude um uns herum warfen. Ich hatte auf einmal eine dritte

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