Der Sohn des Tuchhändlers
Ich brachte mein Gesicht nahe an seines heran, als wollte ich ihm ins Ohr flüstern. »Ihr Haus liegt nämlich nicht weit von hier in der alten Judengasse, direkt gegenüber der Universität, und es gibt bessere Gegenden für einen Kaufmann, der zeigen will, was er hat.«
»Woher kennen Sie …«
»Ein alter Jagdhund findet auch die Fährten, die er gar nicht sucht.« Dann drehte ich mich um und musterte das Haus Janas, das hinter mir in den Nachthimmel aufragte, und unwillkürlich tat er es mir gleich. »Dieses Haus hier ist näher am Tuchmarkt, wenn auch nur um ein kleines Stückchen. Wenn man über einen breiten Fluss will, muss man von Stein zu Stein springen. Es könnte aber sein, dass manche Steine sich als zu unsicher für neumodisches Schuhzeug erweisen.«
»Ich glaube, dass Sie hier etwas falsch sehen«, sagte er mit dem Rest seiner Würde.
»Stimmt. Ich sehe Ihr Gesicht, wo ich viel lieber Ihren Rücken sehen würde. Leben Sie wohl und passen Sie auf, dass Sie nicht von besoffenen Studenten angepöbelt werden, bevor Ihr Knecht Sie in Ihr Haus lässt.«
Ich tat ihm nicht den Gefallen, mit großer Geste im Eingang zu verschwinden und das Tor hinter mir zu schließen. Stattdessen blieb ich stehen, wo ich war, und sah ihm nach, wie er über den unregelmäßig ausgetretenen Lehmboden in die Richtung balancierte, in der die Gasse in die alte Judengasse, die heute Sankt-Anna-Gasse heißt, einmündete. Auf halbem Weg drehte er sich um und sah zu seiner Erbitterung, dass ich immer noch dort stand und ihm nachschaute. Im gleichen Moment stolperte er über eine Fahrrinne, taumelte ein paar Schritt nach vorne und streckte die Arme schon aus, um wenigstens nicht aufs Gesicht zu fallen, fing sich aber wieder und verlor sofort darauf trotz aller wilden Versuche, ihn aufzufangen, seinen Hut. Er starrte auf ihn hinunter, und einen Augenblick lang wunderte ich mich, ob er ihn wohl zurücklassen würde als Opfer unserer stummen Auseinandersetzung, dann tat er sich die Demütigung an, bückte sich und raffte ihn auf. Als er um die Ecke bog und außer Sicht geriet, wusste ich, wen er heute Nacht nicht in sein Nachtgebet einschließen würde.
Ich ließ die Schultern sinken und wandte mich um. Hinter den Fenstern im ersten Geschoss, wo der Saal lag, sah ich jetzt Licht. Ich hatte keinerlei Lust, hinaufzugehen und mich mit Jana auseinander zu setzen, aber ich hatte keine Wahl.
Der Hausknecht schloss das Tor hinter mir. Ich wünschte, ich wäre draußen gewesen anstatt hier drinnen. Ich dachte an das zerknitterte Bett und zwei erhitzte Gesichter. Ich schüttelte den Kopf und merkte, dass ich Angst hatte.
Kapitel 3
22. Tag im Brachmonat, 1486 a.d.
Mors stupebit et natura
Cum resurget creatura
Judicanti responsurra
Judex ergo cum sedebit
Nil inultum remanebit
Ich erwachte davon, dass ein halbes Hundert Leute vor meinem Bett stand und laut durcheinander redete. Dann klärte sich mein Verstand allmählich, und ich erkannte, dass das Stimmengewirr von draußen kam. Etwas länger dauerte es, bis mir klar wurde, dass ich mich nicht in unserem Schlafzimmer befand, sondern in einem der Gästeräume. Ich schlug die Decke zurück und setzte mich auf.
Was ich in der Nacht an Schlaf bekommen hatte, war von wirren Träumen durchsetzt gewesen, an die ich nur so viel Erinnerung hatte, dass ich mich nicht genauer daran erinnern wollte. Der Gästeraum, den ich als Zuflucht genommen hatte, weil es mir unmöglich erschienen war, die Nacht mit Jana in einem Bett zu verbringen – der einzige, der frei gewesen war; es logierten ständig irgendwelche reisenden Agenten des Hauses Dlugosz zwischen zwei Reisen unter Janas Dach –, lag mit der einen Seite direkt zur Straße und grenzte mit der anderen an Janas kleines Arbeitszimmer. Die Geräusche von der Straße waren erträglich gewesen; nachts war nur noch die Wache unterwegs, der eine oder andere Händler, der eine Sondergenehmigung (und genügendGeld für eine Wachmannschaft) besaß oder betrunkene Studenten, die aber bevorzugt die weiter südwestlich gelegenen Gassen mit ihren Gesängen heimsuchten. Die Nachtwache machte auf dem festgestampften Lehmboden kaum Lärm. Was in meinen Ohren gellte und die Träume mit dumpfen Phasen des Wachseins unterbrach, war das Schweigen in dem Raum jenseits der Mauer, an der mein Bett stand.
Ich trat ans Fenster und öffnete es. Der Lärm brach noch lauter herein, und mit einem kühlen Hauch und den üblichen Düften eines frühen Krakauer Morgens
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