Der Sohn des Tuchhändlers
hatte erwartet, dass sie nur die Mannpforte öffnen würden – aber nein, sie zogen das gesamte Tor in die Höhe, als wenn es nie eine Situation gegeben hätte, in der es geraten gewesen schien, es zu verrammeln. Füße in Stiefeln wurden sichtbar, die auf der anderen Seite des Tores standen, die Beine von Pferden, die Schäfte von Spießen, die auf den Boden gestützt waren … nach einigen Augenblicken war das Tor so weit oben, dass mehrere Männer sich bücken und darunter durchschlüpfen konnten. Einer von ihnen trug eine Axt – offensichtlich das Instrument, mit dem von innengegen das Tor gepocht worden war. Einige der Männer, die herausgekommen waren, scharten sich sofort um den Anführer der Wache und schrien auf ihn ein. Sie sprachen deutsch, aber sie redeten so wild durcheinander, dass ich kein Wort verstand. Die anderen warfen uns Blicke zu, die ich nicht deuten konnte.
»Jetzt kommt Leben in die Sache«, bemerkte Daniel.
»Lasst uns gehen«, sagte ich. »Bevor sie noch auf uns aufmerksam werden.«
»Eine gute Entscheidung«, bemerkte Miechowita und griff nach den Zügeln seines Pferdes.
»Nicht, dass mir an Ihrer Zustimmung etwas läge«, sagte ich und wandte mich ab. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er zusammenzuckte und wie Sabinas Kopf überrascht nach oben schnappte. »Gehen wir.«
Das Tor hatte mittlerweile eine Höhe erreicht, dass ein Mann auf einem Pferderücken darunter durch konnte, ohne absteigen zu müssen. Ohne sich zu bücken würde es ihm jedoch nicht gelingen. Das Tor machte noch einen Ruck und hielt dann still. Die Ketten klirrten. Alle Augen richteten sich auf das Tor, aber es bewegte sich nicht mehr. Die zwei Männer an der Kurbel innen schienen der Ansicht zu sein, dass es gut war, wie es war. Der Scharführer errötete, fuhr herum und stürzte in den Flankenturm hinein; wir hörten ihn drinnen etwas brüllen, und das Tor setzte sich ächzend erneut in Bewegung. Er kam wieder heraus und grinste wie ein Mann, der gerade etwas sehr Kompliziertes bewältigt hat. Mieochowita stieg auf und musterte mich nachdenklich.
»Worauf wartet ihr«, sagte ich. »Machen wir, dass wir von hier wegkommen.«
»Ohne rauszufinden, was hier los war?« Daniel schien enttäuscht.
»Spätestens morgen pfeifen es die Spatzen von den Dächern. Und ich höre es mir lieber von denen an als in nächster Nähe zu einem Unruheherd.« Ich deutete nach oben zum Wehrgang.Dort standen die beiden Bogenschützen und starrten herunter und schienen unsicher zu sein, ob sie nicht lieber Pfeile auf die Sehnen legen und sich für zwei tödliche Schüsse bereitmachen sollten. Bislang hatte niemand daran gedacht, sich zu ihnen nach oben zu begeben und ihnen die neue Sachlage darzulegen.
»Warum hat er gesagt: Der Rat?«, fragte Daniel und wies mit dem Kopf auf Miechowita.
»Weil die drei, die gerade den Scharführer zusammenstauchen, die Ratsmitglieder Wierzig, Morstein und Bonner sind.«
»Also wenn sich Ratsmitglieder hierher bequemen …«
»Genau. Beweg dich, mein Sohn.«
»Meine Empfehlung an Frau Jana«, sagte Miechowita und zog den Hut aufs Neue. Er machte eine einladende Geste, dass wir vorgehen sollen.
»Steck dir deine Grüße in den Hintern«, murmelte ich so, dass er es nicht hören könnte. Ich stapfte um die Streithähne beim Tor herum. Sabina hatte mein Gemurmel gehört. Sie musterte mich, dann Miechowita, dann wieder mich. Auf ihrer Stirn entstand eine steile Falte. Sie sah zu Boden, während sie neben Daniel und mir hereilte, aber ich wusste, dass ihr Argwohn nun erst recht geweckt war.
Und als wir hinter der Mauer angekommen waren und ich einen Blick auf die breite Floriansgasse werfen konnte, ahnte ich, dass auch in der Stadt etwas geweckt worden war, das besser weitergeschlafen hätte.
Paolo sprang von seinem Platz im Saal auf und rannte auf uns zu, kaum dass wir über die Schwelle getreten waren. Er saß allein an dem langen Tisch, den Jana hatte decken lassen, und hatte die Brotscheibe, die vor seinem Platz lag, so zerkrümelt und über die Hälfte des Tisches verteilt, dass man bei engerer Sichtweise eigentlich hätte neu eindecken müssen. Jana war nicht zu sehen, aber an dem Platz neben Paolos Chaos lag eine in der Mitte gebrochene weitere Brotscheibe, die beidenHälften wie ein Dach zusammengestellt – Janas Signatur. Wenn man sie lange genug irgendwo an einer Tafel sitzen ließ, ohne dass sie sich beschäftigen konnte, entstanden solche Kunstwerke. Paolo besann sich auf halbem Weg
Weitere Kostenlose Bücher