Der Sohn des Tuchhändlers
Irrsinn könne nicht mehr größer werden.
Wir platzten auf den Marktplatz hinaus, und einen schwindelerregenden Moment lang dachte ich, es fände eine Massenhinrichtung statt und die Leute wären deshalb so hysterisch. Einhalbes Dutzend Gestalten hing am Querholz des Galgens. Dann sah ich, dass sie dort nicht baumelten, sondern sich hinaufschwangen oder schon rittlings oben postiert hatten, um besser sehen zu können. Ich blieb stehen, teils weil mein Herz so heftig schlug, dass mir der Atem wegblieb, aber hauptsächlich wegen des rhythmischen Gesangs. Ich konnte die Worte jetzt verstehen.
Mojzesz stolperte, kam ebenfalls zum Stehen und taumelte zu mir zurück. Sein Gesicht war hochrot, und sein Mund schnappte krampfhaft nach Luft. »Das …«, stieß er hervor und stützte die Hände auf die Knie, um wieder zu Atem zu kommen, »das …«, keuchte er in Richtung Boden, »das ist es, was du …« Er verstummte und atmete pfeifend.
Avellino.
Ich hatte den Mann schon vergessen gehabt.
Avellino. Avellino.
Tatsächlich war er seit seinem verunglückten Auftritt vor der Sankt-Andreas-Kirche nicht mehr in der Öffentlichkeit gehört worden. Er hatte sich entweder verkrochen gehabt und die Wunden geleckt, die seiner Eitelkeit geschlagen worden waren, oder er hatte auf den richtigen Augenblick gewartet.
Avellino. Avellino. Avellino-Avellino-Avellino!
Der Augenblick schien da zu sein. Jemand hatte ihm den passenden Vorwand geliefert. Ich starrte von der dichtgedrängten Menschenmasse zu dem vornübergebeugt stehenden Mojzesz Fiszel und fühlte, wie mir kalt wurde. Jemand? Mojzesz war überzeugt, ich war es gewesen …
Ich hörte eine keifende Stimme, die durch das Gebrüll schnitt: » avellino !«, und eine andere, die schrie: »Gib uns die wahrheit !«
»Ich habe damit nichts zu tun«, flüsterte ich. Mojzesz stöhnte und richtete sich auf. Er hielt beide Hände auf die Brust gepresst und schwankte. In einer seiner Fäuste steckte immer noch sein Barett. Er öffnete sie langsam und nestelte die total zerknüllteJarmulke daraus hervor. Sein mächtiger Körper hob und senkte sich krampfhaft. Sein Gesicht war dunkel vor Atemnot.
»Avellino, erleuchte uns!«, schrie jemand in unserer Nähe. Ich starrte den Schreihals an. Er stand in einer Gruppe von Menschen, die wie er die Fäuste erhoben hatten und sie begeistert in Richtung der Waagenhäuschen schüttelten. Er trug den dunklen zerfledderten Mantel nicht, aber ich erkannte seine ausgefranste Gestalt auch so. Seine Begleiter schielten zu ihm, und als er mit dem Fäusteschütteln aufhörte und stattdessen rief: »Avellino-Avellino-Avellino!« und dazu zu klatschen begann, taten sie es ihm sofort nach. Das Samenkorn hatte weitere Früchte getragen. Ich fasste zu Mojzesz hinüber, nahm ihm die Jarmulke ab und stopfte sie in seinen Gürtel. Er riss die Augen auf, aber ich betrachtete nur den Langnasigen und seine Kumpane, die in diesem Augenblick zu uns herüberstarrten. Wir kreuzten über die Distanz von zwei Dutzend Schritten hinweg die Blicke. Ich konnte die Zähne in seinem weit aufgerissenen Maul sehen und wie ihm Haut unter dem Kinn von seinem Füßestampfen schlotterte. Seine Begleiter merkten, wohin er sah, und wandten uns ebenfalls ihre Aufmerksamkeit zu. Ich hob die Hände und sah ihrem Anführer immer noch in die Augen; dann klatschte ich einmal.
»Avellino-Avellino- avellino !« Immer mehr Menschen fielen ein.
Der Langnasige nickte mir zu und wandte sich wieder in Richtung der Waagenhäuschen; seine Entourage wendete sich ebenfalls wie Grashalme, in die ein plötzlicher Windstoß fährt. Ich ließ die Hände sinken. Mojzesz musterte mich mit aufgerissenen Augen und versuchte unwillkürlich, die Jarmulke aus dem Gürtel zu ziehen. Ich legte ihm eine Hand auf die Knöchel.
»Gott will nicht, dass du wegen eines Käppchens in Stücke gerissen wirst«, sagte ich.
Mojzesz keuchte. Ich deutete auf die Waagenhäuschen. »Heute Nachmittag auch schon?«
Mojzesz nickte. »Kurz vor dem Mincha-Gebet«, stieß er hervor.
Ich verzog den Mund. »Du hast mich selbst gesehen. Ich war bis kurz nach dem Mittagläuten bei Laurenz Weigel.«
Mojzesz wies auf die verhüllte Gestalt auf dem Dach der Kleinen Waage und ließ die Hand wieder sinken. »Aber … woher soll er … und so schnell …?«
»Lass uns näher rangehen«, sagte ich grimmig und zog ihn am Ärmel. »Ich will hören, was er sagt. Außerdem fallen wir auf, wenn wir hier am Rand bleiben.« Ich spähte zu dem
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